Französischer Islamismus-Experte zum Anschlag in Paris

Von Michael Althaus (KNA)

Hamburg (KNA) Der Soziologe und Islamwissenschaftler Gilles Kepel (62) sieht trotz des jüngsten Anschlags in Paris Erfolge im Kampf gegen den dschihadistischen Terror. Dennoch warnt er weiterhin vor einer Spaltung der Gesellschaft, die die Terroristen herbeiführen wollten. Der Professor am Institut d’Etudes Politiques de Paris analysiert seit Jahren den islamistischen Terrorismus und seine politischen und sozialen Ursachen. Vor kurzem ist sein Buch “Der Bruch. Frankreichs gespaltene Gesellschaft” auf Deutsch erschienen. Bei einem Besuch in Hamburg sprach er im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) am Freitag über die Stimmung in Frankreich kurz vor der Prä- sidentschaftswahl, die Veränderungen unter Muslimen in Deutschland und die Rolle des Christentums im Kontext des Terrors.

KNA: Herr Kepel, drei Tage vor der französischen Präsidentschaftswahl wird ein Polizist auf den Champs-Elysees erschossen, die Behörden gehen von einem Terroranschlag aus. Der Zeitpunkt war kein Zufall, oder?

Kepel: Nein, und auch der Ort war bewusst gewählt. Der Angriff fand auf den Champs-Elysees statt, einem sehr symbolischen Ort. Der IS hat die Verantwortung für den Anschlag übernommen. Es war der letzte Versuch der Terroristen, die französische Präsidentschaftswahl zu beeinflussen.

KNA: Und wird ihnen das gelingen?

Kepel: Nein, ich glaube nicht. Es ist zu spät, um noch irgendetwas zu beeinflussen. Die Dschihadisten haben das die letzten sieben Monate versucht, aber alle Anschläge wurden vereitelt. Viele hätten gedacht, dass Frankreich die Geisel dschihadistischer Bewegungen würde und dass die Wahl unter dem Schatten des Terrorismus stattfindet. Das wäre genau das, was die Dschihadisten wollen. Sie möchten eine Spaltung der französischen Gesellschaft erreichen.

KNA: Was für eine Spaltung meinen Sie?

Kepel: Es gibt einerseits die Tendenz von Akademikern und den Linken, vor dem Dschihadismus bewusst die Augen zu verschließen. Den Salafismus erkennen sie nicht als Problem, sondern sehen die Muslime als Opfer und solidarisieren sich mit ihnen. Auf der anderen Seite gibt es die extreme Rechte, die die Identität Frankreichs bedroht sieht und mit einseitigen Erklärungen Wähler gewinnt. Diese Spaltung wollen die Dschihadisten vorantreiben. Zuletzt hatten sie damit jedoch nur noch mäßigen Erfolg.

KNA: Warum?

Kepel: Frankreich wurde zwar anderthalb Jahre lang schlimm von Terrorangriffen getroffen. Aber dann hat der Staat enorm in den Geheimdienst investiert. Nach der Ermordung des katholischen Priesters Jacques Hamel in der Normandie am 26. Juli 2016 war es viele Monate ruhig. Weitere Anschläge hätten bedeutet, dass die Menschen in Panik geraten und für die extrem Rechte stimmen. Das wäre genau das, was die Dschihadisten wollen, dass Marine Le Pen gewinnt.

KNA: Was würde ein Sieg Le Pens für die französische Gesellschaft bedeuten?

Kepel: Das wäre ein Erdbeben. Die Übereinkommen, auf denen die französische Gesellschaft beruht, würden zerbrechen. Wir würden in die Zeit des Vichy-Regimes zurückfallen.

KNA: In Ihrem neuen Buch behaupten Sie, dass nahezu alle Politiker die drohende Spaltung der Gesellschaft ignorieren. Ist das immer noch so?

Kepel: In der Tat sind in den letzten Tagen vor der Wahl viele Kandidaten in Panik geraten. Einige sind auf mich zugekommen und haben mich gefragt, wie sie mit dem Thema umgehen sollen. Manche haben ein Statement abgegeben, in dem sie beteuern, dass es keine Spaltung der Gesellschaft geben sollte. Davor haben sie lange ihren Kopf in den Sand gesteckt, weil es sehr schwierig ist, dieses Thema öffentlich anzusprechen.

KNA: Erkennen Sie die gleiche Spaltung in der deutschen Gesellschaft?

Kepel: Die Situation ist nicht genau dieselbe, weil Deutschland eine andere Vergangenheit hat. Die Mehrheit der muslimischen Einwanderer in Deutschland stammt nicht aus Algerien, sondern aus der Türkei. Aber die Zusammensetzung der muslimischen Bevölkerung in Deutschland verändert sich. Es sind Flüchtlinge aus Syrien und der arabischen Welt gekommen. Die türkischen Muslime waren streng über autoritäre Verbände organisiert. Bei den Arabern ist das anders. Dschihadisten können daher unter ihnen leichter auf die Jagd nach Anhängern gehen. Natürlich sind nicht alle Flüchtlinge Terroristen. Aber Menschen wie Anis Amri stammen zum Beispiel aus dieser Gruppe. Das spielt natürlich extrem Rechten wie den Politikern der AfD in die Hände und treibt die Spaltung der Gesellschaft voran.

KNA: Welche Rolle spielt das Christentum im Kontext der Terroranschläge?

Kepel: Eine große. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Ermordung des Priesters in der Normandie ein symbolischer Akt war. In der Folge bekennen sich plötzlich Leute, die zwar aus katholischen Familien stammen und getauft sind, aber de facto gar nichts mehr mit der Kirche zu tun hatten, plötzlich wieder zum Glauben. Als Reaktion auf die islamistische Bedrohung erfährt die katholische Identität Frankreichs eine Wiederbelebung.

KNA: Ist das positiv oder negativ?

Kepel: Das weiß ich nicht. Wer bin ich, das zu beurteilen. KNA: Wie sollten sich die christlichen Kirchen Ihrer Meinung nach im Kampf gegen den Terrorismus verhalten? Kepel: Die katholische Kirche in Frankreich war viel zu sehr darauf aus, den Dialog mit den Muslimen zu suchen, und hat nicht bemerkt, dass radikale Gruppen wie die Salafisten daran überhaupt kein Interesse haben. Natürlich ist es gut und wünschenswert, einen Dialog zu führen, aber zu bestimmten Gruppen sollte man sich auch klar abgrenzen.

KNA: Wer wird am Ende die Präsidentschaftswahl in Frankreich entscheiden: die Vernunft der Wähler oder ihre Angst vor dem Terror?

Kepel: Ich bin zuversichtlich, dass die Wähler ihre Überzeugungen nicht ändern werden. Die französische Gesellschaft hat großes Vertrauen. Es wird keine Panik ausbrechen.