Liebe Leserinnen und Leser,
Samuel P. Huntington hat in seinem vieldiskutierten und umstrittenen Werk „Clash of Civilizations“ die in der westlichen christlichen Welt erfolgte Trennung von Staat und Kirche als weltgeschichtliche Besonderheit und Voraussetzung für die Entwicklung der modernen Demokratie sowie der Freiheit hervorgehoben.Mit diesem Argument wurden seitdem die Existenz und das Andauern harscher Diktaturen in der islamischen Welt erklärt.
Nun aber wird die Welt staunend Zeuge, wie sich in der arabischen Welt die Menschen gegen ihre Herrscher und Diktatoren erheben und lautstark Freiheit und demokratische Rechte einfordern. Wie konnte so etwas passieren? Auch in Deutschland war die Überzeugung weit verbreitet, dass Islam und Demokratie nicht zusammenpassen. Aber unser Bild von islamischen Gesellschaften wurde noch stärker herausgefordert: Auf den Demonstrationen und Kundgebungen waren so gut wie keine islamistischen Slogans und Rufe zu vernehmen. Islamische Parteien wie zum Beispiel die Muslimbruderschaften in Ägypten spielten in den Volkserhebungen nur eine äußerst marginale Rolle. Sie gehörten nicht zu den gestaltenden Kräften des Aufbruchs. Diese Rolle war einer jungen, säkular orientierten Generation vorbehalten, die klar und deutlich ihre demokratischen Grundrechte einforderte.
Diese Entwicklungen werfen wichtige Fragen auf, die von den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen in Zukunft beantwortet werden müssen. Ist die in der abendländischen Zivilisation vorhanden gewesene Konstellation die einzige, zwingend notwendige Voraussetzung, die demokratische Entwicklungen überhaupt erst ermöglicht? Ist dieser Weg eine exklusiv westliche, abendländisch-christliche Erfindung?
Wie immer auch diese Diskussion verlaufen wird, eines ist heute schon erkennbar: Der Begriff „der Islam“ ist viel zu unpräzise, als dass er einen substantiellen Beitrag zur Erklärung sozialer und politischer Entwicklungen beitragen könnte. Auch die These Huntingtons leidet hierunter. Und wir in Deutschland? Verfallen nicht auch wir immer wieder in den Fehler, von „dem Islam“ zu sprechen? Wie die Diskussionen um die Aussagen von Bundespräsident Wulff und dem neuen Innenminister Friedrich über „den Islam“ zeigen, führt eine solch undifferenzierte Betrachtungsweise in die Sackgasse. Welcher Islam ist gemeint? Der Islam Usama bin Ladens? Oder der Islam von al-Azhar?
Die jungen Menschen, die derzeit den Aufbruch der arabischen Welt anführen, sind auch Muslime. Sie schlagen derzeit einen Weg ein, der im christlich geprägten Abendland zur Demokratie führte. Sie können ihn als Muslime auch gehen. Reden wir also weniger über „den Islam“ und mehr über „die Muslime“.
Herzlichst
Ihr Peter Hünseler
Inhaltsverzeichnis
Editorial
Studien
Die Pseudo-Modernisten
Said Nursi und Fethullah Gülen
von Ralph Ghadban 4
Said Nursi und das Christentum
Zur Funktion eines Motivs hagiographischer Literatur in der Nurcu-Bewegung
von Lutz Berger 16
Dokumentation
Ansprache von Papst Benedikt XVI. beim Neujahrsempfang für die Mitglieder des am Heiligen Stuhl Akkreditierten Diplomatischen Corps 21
AMUN JADID und eine neue Hoffnung für den Interreligiösen Dialog
Erklärung der achten Doha-Konferenz über den interreligiösen Dialog 26
Die gemeinsamen Grundlagen für den Dialog zwischen Hindus und Muslimen
von Maulana Waris Mazhari 28
Religion und Gesellschaft heute: Christliche und Muslimische Perspektiven
Das siebte interreligiöse Kolloquium zwischen Teheran und dem Vatikan 31
Ägyptische Imame und Intellektuelle: Erneuerung des Islam in Richtung Moderne
von Samir Khalil Samir SJ 32
Berichte
„Mit Klugheit und Liebe“
Wirkungen einer zweijährigen Fortbildung im christlich-islamischen Dialog
von Katrin Brockmöller und Max-Josef Schuster 41
Die Rolle der muslimischen Frauen in den Moscheegemeinden
Bericht zur III. Fachtagung der Reihe „Religiöse Bildung und Integration“, 13. bis 14. September 2010, Universität Osnabrück
von Anja Middelbeck-Varwick 38
Zugänge zur Trinität für das christlich-muslimische Gespräch
Fachtagung des Zentrums für Komparative Theologie und Kulturwissenschaften
von Sandra Lenke 34
Buchbesprechungen
PÉRENNÈS, Jean-Jacques: Georges Anawati (1905–1994). Ein ägyptischer
Christ und das Geheimnis des Islam
von Thomas Würtz 43
TER BORG, Marlies (Hrsg.): Sharing Mary. Bible and Qur’an Side by Side
von Alexander Toepel 45
MÜLLER, Wolfgang W. (Hrsg.): Christentum und Islam. Plädoyer für den Dialog
von Werner Höbsch 46
Literaturhinweise 47
Neuanschaffungen der CIBEDO-Bibliothek 51
Zeitschriftenschau 53