Wohin steuert die Türkei?

P. Felix Körner SJ über die Situation nach dem Putschversuch / Von Andreas Otto (KNA)

Der katholische Theologe und Islamwissenschaftler Felix Körner SJ hat selbst sechs Jahre in der Türkei gelebt und beobachtet das Land genau. Der Jesuit lehrt an der Päpstlichen Universität Gregoriana und äußerte sich am Freitag im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) in Bonn über die aktuellen Vorgänge in der Türkei.

 

Herr Professor Körner, hat Sie der Putschversuch überrascht?

Dass das zunehmend integralistische – also gegen Pluralität gerichtete – Regime Erdogan Widerstand weckt, das war mir schon klar. Aber mit einem Militärputschversuch: nein, damit hatte ich nicht gerechnet.

Was ist da passiert?

Gute Frage! Wir wissen ja noch gar nicht alles. Es kann Jahre dauern, bis wir die Hintergründe sicher kennen.

Präsident Reccep Tayyip Erdogan hat nun den Ausnahmezustand ausgerufen und entlässt oder verhaftet Tausende von Staatsbediensteten in Militär, Justiz und Bildungswesen. Und unliebsamen Medien wird die Lizenz entzogen. War der Putschversuch inszeniert, um dies alles durchzusetzen?

Das können wir nicht sagen, noch nicht, und noch lange nicht. Aber der Anlass war natürlich hochwillkommen. Denn in einer Atmosphäre der Bedrohung finden Maßnahmen Akzeptanz, die in entspannteren Zeiten mit wenig Zustimmung rechnen könnten.

Der Historiker Michael Wolffsohn fühlt sich an die Machtergreifung der Nazis erinnert. Sie auch?

Das Regime Erdogan ist nicht rassistisch. Aber es agiert populistisch, autoritär, mit Sündenbock- und Verschwörungstheorien. Es lebt von Stigmatisierungen und Polarisierungen. Weil die alten laizistischen Kemalisten kaum noch als Feind herhalten können, braucht es eine andere Gruppe, gegen die man hetzt: “Entweder wir oder die!”

Erdogan macht als Hauptfeind die Gülen-Bewegung aus. Was steckt denn hinter dieser Bewegung?

Die Bewegung ist zu groß, um ihr eine einheitliche Meinung zuzuschreiben. Die Bewegung ist auch nicht so zentral gesteuert, wie ihre Gegner uns glauben machen. Manches, was von der Gülen-Bewegung kommt, ist vielleicht ein bisschen kitschig. Aber sie hatten bis Frühjahr eine der wenigen Qualitätszeitungen der Türkei, sie haben gerade noch seriöse Bildungseinrichtungen getragen. Und Schulen der Bewegung gibt es weltweit. Ich kenne einen Katholiken, der bei ihnen in Uganda zur Schule ging. Als ich ihn fragte, ob sie einmal angedeutet haben, dass der Islam doch die bessere Religion ist, sagte er: nie. Früher habe ich an der Gülen-Bewegung ausgesetzt, dass die Anhänger selten selbstkritisch sind. Aber das sind Kinderkrankheiten. Wenn sie sich halb scherzhaft als die islamischen Jesuiten vorstellen, gefällt mir das natürlich nicht so. Aber es ist absurd, sie als terroristische Vereinigung zu bezeichnen.

Dann ist die Gülen-Bewegung also gar keine Gefahr…

Gefahr geht von den inneren Polarisierungen der türkischen Gesellschaft aus, nicht von einer Bewegung, die für Dialog und Bildung steht.

Was müssen die als Putschisten ausgemachten Personen befürchten angesichts der Forderung von Erdogan, die Todesstrafe wieder einzuführen?

Das ist eine Drohung, die ihn als starken Mann darstellen soll, die Angst verbreiten soll. Sie gibt ihm aber auch die Möglichkeit, dann als der huldvolle Begnadiger dazustehen oder der, der in Milde zurücknimmt, was er in der Hitze des Gefechts geschrien hatte.

Wie beurteilen Sie die Aufforderung an türkische Wissenschaftler im Ausland, wieder in ihr Heimatland zurückzukehren?

Wer Tausenden von Wissenschaftlern das Wirkungsfeld nimmt, braucht Nachschub. Und die kritischen Stimmen der Landsleute, die außerhalb wohnen, kann man daheim besser kontrollieren. Vielstimmigkeit ist einem paranoiden Patriarchen selbstverständlich zuwider.

Wie sollen oder können jetzt Deutschland und Europa auf die Politik Erdogans reagieren: EU-Beitrittsverhandlungen aussetzen, aus der Nato ausschließen, Wirtschaftssanktionen?

Wenn wir ausgrenzen und draufhauen, dann tun wir genau das, was wir am Regime Erdogan kritisieren: Das ist Polarisierung. Wir müssen das sachliche, ehrliche Gespräch führen. Das wirkt nicht so heldenhaft eindrucksvoll wie ein Gegenschlag. Aber Politik ist doch: Wenn gar nichts mehr geht, eine Lösung suchen.

Welche Entwicklung – politisch und wirtschaftlich – wird die Türkei in den kommenden Jahren nehmen? Welche Möglichkeiten gibt es jetzt noch für eine Opposition in dem Land?

In den ersten Jahren der AKP-Regierung, sagen wir 2003/2004, wurde die Türkei merklich pluralistischer. Wer anders war, der war kein gefährlicher Spinner mehr, sondern auch ein Gesicht der sich neu findenden Türkei. Damals ist ein Selbstbewusstsein gewachsen, das heute weiterlebt. Das wäre abrufbar, wenn glaubwürdige Vertreter sich als integrierende demokratische Alternative zu Erdogan zusammenfinden. Das ist die Chance. Deshalb meint der Präsident ja, er müsse Angst und Hass schüren. Eine Rückkehr zum autoritären Laizismus will kaum einer, eine Zersplitterung erst recht nicht. So steht Erdogan jetzt da als der Starke, der Einheitsgarant, aber auch als der Einzige.