Von Leticia Witte (KNA) Berlin (KNA) Erschöpfte Menschen, großes Leid und eine gestoppte Evakuierung aus Ost-Aleppo, über deren Fortsetzung gerade verhandelt wird: Die Syrien-Expertin Kristin Helberg aus Berlin erläutert in einem Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) die Lage in dem Kriegsland.
KNA: Frau Helberg, Evakuierung, Vertreibung: Was passiert genau in Ost-Aleppo?
Helberg: Es ist eine Strategie des syrischen Regimes, die sich bewährt hat: oppositionelle Gebiete abzuriegeln, auszuhungern und ständig zu bombardieren. Das hat in Ost-Aleppo auch funktioniert. Das heißt, die Bewohner werden vertrieben. Es ist eine Form von politischer Säuberung, denn es geht um Loyalität zum Assad-Regime. Es geht darum, dass die Syrer, die gegen Assad aufbegehren, nicht mehr dort bleiben sollen. In den Gebieten, die er kontrolliert, sollen Menschen leben, die sich seiner Macht beugen.
KNA: Was bedeutet das für die in Ost-Aleppo gebliebenen Menschen?
Helberg: Diese Leute haben große Angst, verhaftet zu werden. Die meisten, die dort noch ausharren, haben Verbindungen zum bewaffneten Widerstand oder zur Zivilverwaltung. Ost-Aleppo wurde seit Jahren von einem oppositionellen Stadtrat regiert. Dessen Mitglieder, aber auch Aktivisten, Journalisten, Rettungskräfte und Ärzte, fühlen sich jetzt akut bedroht und wollen deswegen nicht in die Hände des Regimes fallen.
KNA: Wie geht es mit den Menschen, die bis zum Stopp der Evakuierung aus Aleppo gebracht wurden, weiter?
Helberg: Das ist schwierig zu sagen. Der Plan ist, dass Rebellen und Zivilisten in den westlichen Teil der Provinz Aleppo gebracht werden und zum Teil in die Provinz Idlib. Beide Gebiete sind noch in den Händen der Opposition. Aber das Misstrauen ist groß: Wenn eine solche Evakuierung nicht durch neutrale internationale Beobachter überwacht wird, könnte das Regime junge Männer festnehmen. Das ist schon öfter passiert. Von diesen Männern hat man dann nichts mehr gehört.
KNA: Können der Besuch des Vorsitzenden des Stadtrates von Ost-Aleppo, Brita Hagi Hasan, in Brüssel und seine eindrücklichen Appelle etwas am Verhalten der internationalen Gemeinschaft ändern?
Helberg: Ich denke nicht. In Syrien findet der am besten dokumentierte Massenmord der Geschichte statt. Im Gegensatz zu früheren Massakern in Ruanda oder Srebrenica sind wir in Ost-Aleppo fast live dabei. Durch die sozialen Medien wissen wir sehr genau, was passiert. Kriegsverbrechen sind so gut dokumentiert, dass man Assad und andere Verantwortliche innerhalb des Regimes anklagen könnte. Trotzdem sind wir nicht in der Lage, die Gräuel zu verhindern.
KNA: Welche Optionen gibt es, um den Krieg zu beenden?
Helberg: Der Syrien-Konflikt wird irgendwann am Verhandlungstisch enden, aber uns fehlen die Voraussetzungen dafür. Denn zum jetzigen Zeitpunkt kann eine Konfliktpartei ungestört an einer militärischen Lösung arbeiten. Das Assad-Regime hat alle Mittel und die Unterstützung, die es braucht – durch eine Weltmacht Russland und eine Regionalmacht Iran, die schiitische Milizionäre aus der ganzen Welt rekrutiert. Afghanen, die im Iran unter widrigen Umständen leben, werden als Söldner geworben und nach Syrien geschickt; hinzu kommen Kämpfer aus dem Irak und dem Libanon – das ist der erste schiitische Dschihad der Geschichte.
KNA: Was sind die Konsequenzen?
Helberg: Assad hat alles, was er braucht, um Gebiete zurückzuerobern und eine militärische Lösung voranzutreiben. Deswegen hat er kein Interesse, zu verhandeln und Macht abzugeben. Es gibt eine politische Lösung auf dem Papier, auf die sich im Dezember 2015 alle internationalen Akteure geeinigt haben, per UN-Resolution, auch Russland. Dort ist die Rede von einem geordneten Machtwechsel. Aber dafür braucht es den Willen Russlands, Druck auf Assad auszuüben. Das sehen wir aktuell nicht.
KNA: Wie könnte eine politische Lösung aussehen?
Helberg: Nur eine Regierung, an der alle Konfliktparteien beteiligt werden, wird Frieden bringen. Assad muss zurück an den Verhandlungstisch gezwungen werden, womöglich auch mit militärischem Druck.
KNA: Was hat der Konflikt mit Religion zu tun?
Helberg: Ursprünglich nichts. Der Krieg in Syrien ist aus einer Revolution hervorgegangen, die keine religiösen Motive hatte. Menschen, die unter Baschar al-Assad wirtschaftlich verloren hatten, waren nicht länger bereit, staatliche Willkür zu ertragen. Sie gingen auf die Straße und demonstrierten – unabhängig davon, ob sie Sunniten, Christen oder Alawiten sind. Wir finden in der Opposition auch Vertreter von Minderheiten.
KNA: Welche Rolle spielen die Religionsvertreter?
Helberg: Das Problem in Syrien ist, dass sämtliche offiziellen Religionsvertreter – etwa der sunnitische Mufti oder christliche Patriarchen und Bischöfe – ihre Funktion nur mit Zustimmung der Geheimdienste ausüben können. In Syrien kommt niemand in ein offizielles Amt ohne den Segen der Geheimdienste. Das heißt, diesen Menschen sind die Hände gebunden, sie sind inoffizielle Sprecher dieses Regimes.
KNA: Wie beurteilen Sie die Situation von Christen in Syrien?
Helberg: Ich glaube, dass die Christen große Angst haben. Alle Menschen, die in den Gebieten unter Assads Kontrolle leben, ziehen den Kopf ein und verhalten sich möglichst unauffällig, weil sie noch viel zu verlieren haben – vor allem eine gewisse Sicherheit. Viele sind deswegen hin und her gerissen: Einerseits sehen sie diese furchtbaren Verbrechen, mit denen sie nicht einverstanden sind. Andererseits fürchten sie, dass nach einem Sturz Assads Extremisten an die Macht kommen, die Andersgläubige vertreiben könnten.
KNA: Hat Assad die Christen instrumentalisiert?
Helberg: Assad benutzt die Minderheiten zum eigenen Machterhalt, vor allem die Alawiten, aber auch die Christen. Er hat die Gesellschaft gezielt gespalten. Die sunnitische Bevölkerung wird mit Aushungern und Bombardierung kollektiv bestraft. Zu Beginn des Aufstands hat Assad alawitische Milizen losgeschickt, um schreckliche Massaker zu begehen, er hat Raketen auf oppositionelle Gebiete aus christlichen Dörfern abschießen lassen, um bei den Sunniten den Wunsch nach Rache zu wecken. Dadurch wuchs unter Christen und Alawiten die Angst vor der sunnitischen Mehrheit, und Assad konnte sich als ihr Schutzpatron inszenieren. Inzwischen sind Hass und Misstrauen sehr verbreitet. Es bleibt nur die Hoffnung, dass sich die Syrer irgendwann daran erinnern, wie gut sie früher zusammen gelebt haben – übrigens lange vor den Assads.
(KNA – qlmlr-89-00032)