Von Paula Konersmann (KNA) Berlin (KNA) Immer wieder sorgen Fotos von Anhängern der Terrormiliz “Islamischer Staat” (IS) für Aufsehen: Junge Männer zeigen sich tätowiert, mit Zigarette oder einem Bier in der Hand. Sollten Dschihadisten nicht die Regeln des Islam einhalten, fragt sich da mancher Betrachter. Doch dabei handelt es sich nur scheinbar um einen Widerspruch. Immer mehr Fälle zeigen, dass die Grenzen zwischen Kriminalität und Terrorismus fließend sind – und dass Religion meist nur eine untergeordnete Rolle spielt. Rund 5.000 Westeuropäer sind Schätzungen zufolge in den vergangenen Jahren in den Mittleren Osten ausgereist. Das Thema Terror steht nach den Anschlägen in Paris, Brüssel, Nizza, Ansbach und Berlin ganz oben auf der politischen und medialen Agenda. Dennoch halten sich falsche Vorstellungen teils hartnäckig. Zu diesem Schluss kommt eine Studie des International Centre for the Study of Radicalisation and Political Violence (ICSR) in London. Der IS, erklären die Forscher, sei weniger eine klar strukturierte Organisation als vielmehr ein Netzwerk aus verstreuten, anonymen Zellen. Deren soziale Umgebung gleicht dem Milieu von Gangstern und Kriminellen – und das wiederum beeinflusst die Wege der Radikalisierung. Der IS geht demnach in Problemvierteln und Gefängnissen auf Mitgliederfang, bei Gruppierungen, die bereits mit Gewalt und illegalen Aktionen aufgefallen sind. Der belgische Islamwissenschaftler Alain Grignard bezeichnete die Terrormiliz einmal als “eine Art Super-Gang”. Damit unterscheidet sich der IS von Al-Kaida, der Organisation, die die Anschläge des 11. September 2001 verübt hat: Die Attentäter waren Studenten; Al-Kaida wollte sich stets in theologische Debatten einbringen. Wer sich dem IS anschließen möchte, braucht dagegen laut ICSR keinerlei religi- öse Kenntnis. Wer tatsächlich religiös ist, dem rät der IS inzwischen sogar, dies eher zu verstecken. Insofern müsse Radikalisierung neu gedacht werden, fordern die Experten um den bekannten Terrorforscher Peter Neumann. Denn: “Fromm zu sein, ist kein Garant dafür, dass man aufgehört hat, kriminell zu handeln, während das Auftreten als ‘Gangster’ eine Verstrickung in den Terrorismus nicht verhindert.” Das betrifft beispielsweise die Rekrutierung in Gefängnissen – die Londoner Forscher rechnen damit, dass sie künftig noch wichtiger werde. Die Attentäter, die die Anschläge auf die Redaktion des französischen Satiremagazins “Charlie Hebdo” sowie einen jüdischen Supermarkt in Paris verübten, haben sich den Ermittlungen zufolge im Gefängnis radikalisiert. Sie passen in die Zielgruppe, die die Studie beschreibt: jung, mit muslimischem Hintergrund, aber wenig Wissen über die eigene Religion, impulsiv und risikobereit. Gefängnispersonal und Seelsorger müssten dafür sensibilisiert werden, zwischen religiösem Interesse und Radikalisierung zu unterscheiden, mahnen die Forscher. Der IS werbe mit etwas, das viele Kriminelle suchten: Die Experten sprechen von einem “Erlösungsnarrativ”. Wer sich der kriminellen Vergangenheit ab- und dem Islam zuwende, dem verspreche die Miliz die Vergebung der früheren Sünden – teils bewirbt der IS die Teilnahme am Dschihad ausdrücklich als “Reinigung”. Zugleich könnten “persönliche Bedürfnisse” im Kampf für den IS weiterhin befriedigt werden, so die Studie. Und wie kriminelle Banden böten die Terroristen ein vermeintliches Abenteuer, die Ausübung von Macht und das Gefühl, gegen das Establishment zu handeln. Wer Gewalt ausüben will, findet beim IS zudem eine Legitimation; womöglich die krude Überzeugung, die Gewalt diene einem höheren Zweck. Das passt zu den Szenen, die junge Frauen aus ihrer Zeit als IS-Gefangene schildern. So beschreibt Farida Khalaf in ihrem Buch “Das Mädchen, das den IS besiegte”, wie Terroristen vor Vergewaltigungen zum Gebet niederknien und ihre Tat auf diese Weise “als eine Art Gottesdienst” zelebrieren. Dabei, so betont Khalaf, sei ihr Tun “nicht im Geringsten gottesfürchtig”, sondern “eine große Schande für ihre Religion”.
(KNA – qlmmo-89-00043)