Von Leticia Witte (KNA) Bonn (KNA) Sprechen wir über Religion – und den Nahen Osten als “Schmelztiegel der Menschheit”.Wenn sich zu dem Thema ein berühmter Schriftsteller, ein Theologe und eine Philosophin treffen, kann dies Menschenmassen anziehen. So geschehen am Sonntagabend in der Bundeskunsthalle in Bonn, die aus allen Nähten zu platzen schien. “Ein Schmelztiegel kann richtig heiß sein”, betonte der Theologe und Archäologe Dieter Vieweger aus Jerusalem. Der Israeli David Grossman, Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, pochte auf eine Zweistaatenlösung. Die Philosophin und Holocaust-Überlebende Agnes Heller aus Budapest fragte: Was ist ein anständiger Mensch? Zwischen diesen Polen bewegte sich die Diskussion und erinnerte als eine Art Rundumschlag an die aktuelle Ausstellung “Eine kurze Geschichte der Menschheit – 100.000 Jahre Kulturgeschichte” in der Bundeskunsthalle. In der Diskussion im Rahmen der Reihe “Jerusalemer Gespräche Bonn” kam das Trio immer wieder auf Religion zu sprechen. “Religion war immer im Spiel”, konstatierte denn auch Vieweger mit Blick auf die Anfänge der Menschheit. Heller erklärte das Bedürfnis von Menschen nach Religion damit, dass sie jemanden bräuchten, der über ihnen stehe. Der aus der DDR stammende Vieweger schränkte ein, dass im Osten Deutschlands im Jahr der Wiedervereinigung nur wenige Menschen religiös gewesen seien. Heute ist das kaum anders. “Wenn man über Religion spricht, muss man über verschiedene Facetten reden.” Religion könne ein Machtinstrument sein und für Macht missbraucht werden, mahnte Vieweger, Direktor des Deutschen Evangelischen Instituts für Altertumswissenschaft des Heiligen Landes in Jerusalem. Wenn jemand in der Region der Weltreligionen Judentum, Christentum und Islam etwa für sich beanspruche: “Abraham ist mein Vater, nicht deiner.” Grossman, einer der bedeutendsten Schriftsteller der israelischen Gegenwartsliteratur, betonte mit Blick auf den Nahen Osten: “Man kann sehen, wie Menschen immer religiöser werden.” Manche idealisierten sich und dämonisierten die anderen. Wenn es in einem Konflikt um Politik und territoriale Interessen gehe, sei er immer noch lösbar. Anders, wenn Religion im Zentrum stehe. Dann würden Menschen “hermetisch”, so Grossman, der sich als Atheist bezeichnete. In einer solchen Situation sei ein Dialog kompliziert. “Wir haben das wundervolle Privileg, dass wir alle gleich sind.” Doch sobald sich jemand als übergeordnet definiere, werde es schwierig. “Wenn man so anfängt zu denken, ist es das Ende der Demokratie.” Vieweger sagte, angesichts einer Destabilisierung des Umfeldes im Nahen Osten – für die der Westen eine Mitverantwortung trage – hätten viele Menschen “Heil und Flucht” in der Religion gesucht. Auf dem Weg zum Frieden helfe Aufklärung – und Probleme wie etwa religiöse Hetze offen anzusprechen. “Anders geht es nicht.” Wenn jemand ständig Krieg und Angst erlebe, sei es nicht leicht, an Frieden zu glauben, gab Grossman zu bedenken. Er verlor 2006 seinen Sohn Uri bei Kämpfen im Libanon und setzt sich in seiner Heimat für Frieden ein. “Wir müssen aufpassen, dass wir nicht Gefangene unserer Geschichte werden.” Trotz aller Kritik betonte er: “Dass wir Israel überhaupt haben, ist ein Wunder.” Aber auch die Palästinenser müssten ebenso wie die Israelis eine Heimat haben können. Und wie ist es in Europa? Dort hätten die Menschen eine nationale Identität, keine religiöse, sagte Heller. “Religion ist Privatsache.” Sie monierte, dass junge Leute oft nicht wüssten, was heiße, Europäer zu sein. “Wir sollen den Schatten unserer Geschichte nicht vergessen.” Alte Zeiten könnten zurückkommen, mahnte Heller. Sie war Hannah Arendt auf dem Lehrstuhl für Philosophie an der New School for Social Research in New York nachgefolgt. Viele Menschen dächten heute, sie seien ohne Schuld, sagte Heller. Dabei wolle ein anständiger Mensch lieber selber leiden, als andere leiden zu lassen. “Es ist nicht so einfach, ein Mensch zu sein” – es klang wie das Fazit des Abends.
(KNA – rkllq-89-00029)