Berlin (KNA) Nach Einschätzung des französischen Psychoanalytikers und Islamismusforschers Fethi Benslama gibt es keinen politischen Islam.
Dschihadisten gehe es vielmehr um die Zerstörung des Politischen, sagte er der “Welt” (Freitag). Ihr Hauptfeind sei die Demokratie, “weil sie Gott hinter sich gelassen” habe. Das Leben der meisten Muslime sei “viel säkularisierter als wir denken”, fügte Benslama hinzu. Wer sich radikalisiere, lebe im Gegensatz zu dieser Mehrheit eine “Religion der Äußerlichkeit. Man trägt alles vor sich her: den Bart, das Zeichen auf der Stirn, weil man sich so oft beim Beten neigt, das Kopftuch, die Hosen. Das alles gab es vorher nicht.”
Unabhängig von jeder Kultur gebe es heute viele Menschen, “die in dem Gefühl leben, nicht zu existieren”, so der Psychoanalytiker. “Die moderne Welt verstärkt dieses Gefühl. Gott ist nicht mehr in den Dingen, der Mensch wird einsam und verzweifelt.” Zugleich sei der Zweifel eine Grundlage der Moderne, etwa in den Wissenschaften, und diese Kombination fördere Verschwörungstheorien. “Der Zweifel kann zur Malaise werden.”
Die Demokratie gehe davon aus, dass es den Menschen gut gehe und dass sie optimistisch in die Welt blickten. “Das aber trifft nicht auf alle Menschen zu.” Demokratie bedeute Arbeit, Anstrengung und Verantwortung. Daher wollten viele “die Reglementierung”, sehnten sich nach einer gewissen Strenge. Insofern hätten sich die europäischen Demokratien mit dem Rückbau von Armee und Polizei keinen Gefallen getan. “Autoritär, aber respektvoll, das wäre die Alternative”, so Benslama: “Wie bei den Pfadfindern.”
Zugleich seien viele der Demokratie überdrüssig, “weil sie nicht mehr wissen, wie es in einem nichtdemokratischen Land zugeht”. Benslama appellierte an die westlichen Regierungen, nicht länger Diktaturen oder Islamisten “aus taktischen Gründen” zu unterstützen. Der Westen glaube “offenbar immer noch nicht an die Demokratiefähigkeit der islamischen Welt”.
(KNA – rkplt-89-00026)