Die türkische Regierung greift durch: nach dem niedergeschlagenen Putsch vom Wochenende sind Tausende verhaftet worden, bis zu 36.000 Menschen haben darüber hinaus ihren Arbeitsplatz im Bildungssektor verloren, allein das Bildungsministerium hat 15.000 Menschen entlassen. 24 Radiosender dürfen nicht mehr senden. Und am Mittwoch hat Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Ausnahmezustand ausgerufen, die Europäische Menschenrechtskonvention soll zum Teil in der Türkei nicht mehr gelten, fast täglich gibt es neue Meldungen dieser Art. Als „keine guten Entwicklungen” hatte das am Donnerstag Kardinalstaatssekretär Pietro Parolin bezeichnet.
Die Begründung für die Maßnahmen und die Vorwürfe gegen die Entlassenen sind immer dieselben: Zugehörigkeit zur Bewegung von Fetullah Gülen. Aber was ist das eigentlich für eine Bewegung, die dem türkischen Präsidenten Erdogan so viel Kopfzerbrechen zu bereiten scheint?
Die Bewegung nennt sich selbst gar nicht „Gülen-Bewegung“ sondern „Hizmet“ [der Dienst], erklärt Pater Tobias Specker, Islamwissenschaftler und Professor in der Hochschule Sankt Georgen in Frankfurt. „Damit stellen sie ein Programm des Dienstes in die Mitte.“ Die Struktur zu beschreiben, sei nicht einfach, so Specker, man spreche deswegen von einem Netzwerk, wenn man die Bewegung soziologisch fassen wolle. Dazu gehörten Ausbildungshäuser, vor allem auch geistlicher Art, dazu gehöre gesellschaftliches Engagement, dazu gehörten Dialogzentren und Schulen, dann aber auch eine Bank, bis vor kurzem eine Zeitung und dann auch eine Hilfsorganisation. „Da sieht man, dass das ein Konglomerat aus verschiedenen Dingen ist. ‚Netzwerk’ ist tatsächlich eine gute Beschreibung, weil gar nicht leicht zu sagen ist, wo das Zentrum ist.“
Für die Öffentlichkeit steht Fethullah Gülen hinter der Bewegung. Der islamische Geistliche, der in Pennsylvania in den USA lebt und von der Türkei seit 2013 des Umsturzes der AKP-Regierung beschuldigt wird, wird hinter vielen Aktivitäten direkt vermutet. Das sei aber nicht ganz so einfach und eindeutig, sagt Specker: „Mein Eindruck ist, dass er tatsächlich so etwas ist wie der geistliche Inspirator, der durch die Frömmigkeitspraxis derer, die sich der Bewegung enger verbunden fühlen, sehr prägend ist, weil seine Schriften regelmäßig gelesen, studiert und besprochen werden. Dass man sich das so vorstellen kann, dass da in Pennsylvania so eine Art Schaltzentrale ist, in der die Politik zentral durchorganisiert bestimmt wird, das ist nicht mein Eindruck.“ Er selber kenne das Netzwerk aus Deutschland, der Türkei, Italien und Kenia, da seien die Unterschiede, wie die Bewegung funktioniere, schon sehr erheblich.
„Mir scheint das so, als ob da eine Art allgemeine Leitlinien bestünden, und dann eine hohe Bindung an die Predigten von Fethullah Gülen. Die Ausformung ist dann aber sehr unterschiedlich.“ Auch inhaltliche Fragen würden je nach Kontext unterschiedlich beantwortet, Specker nennt das Beispiel der Rolle der Frau.
Schulen und Dialogzentren
Dass die Bewegung auch in deutschsprachigen Ländern wichtig ist, steht außer Zweifel. Aber bei der Frage, wie wichtig, wird es schon schwieriger. „Es ist natürlich der Eigenart der Bewegung oder des Netzwerkes geschuldet, dass man das nicht genau sagen kann. Wenn ein Mensch, der sich Fethulla Gülen verbunden fühlt, etwas gründet, dann bin ich nicht sicher, dass das auch zentral irgendwo registriert wird. In Deutschland gibt es zwischen 20 und 30 Schulen, die in irgend einer Weise auf ‚Hizmet’ berufen. Es gibt hunderte von Dialogvereinen und Nachhilfezentren.“
Im Kernbereich des religiösen Lebens, also in Sachen Moschee-Organisation oder Wallfahrten, seien sie bisher aus eigener Überzeugung recht wenig tätig geworden, sagt Specker. Das habe man den anderen türkischen Organisationen überlassen. Der Hizmet-Kern sei mehr die Bildungsarbeit.
„Was sie geistlich trägt, kann man als eine Art von ‚konservativen Modernismus’ bezeichnen“, so Specker. „Es ist schon eine starke Bindung an die Person und die Predigten Fethullas Gülens, diese Person steht wirklich stark im Mittelpunkt. In dem Sinne ist es so eine Art charismatische Bewegung. Ich denke, sie stehen schon ziemlich deutlich auf dem konservativen Mainstream des sunnitischen Islam, haben sich aber in der Organisationsform anders als Moscheegemeinden sehr stark in Zirkeln organisiert, die dann wieder zusammen ein geistliches Leben führen. Man könnte es vielleicht vergleichen mit [christlichen] Neuen Geistlichen Bewegungen, wobei sie stärker als diese auch ökonomisch und gesellschaftlich aktiv sind.“
(rv 20.07.2016 ord)
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