Liebe Leserinnen und Leser,
im vergangenen Jahr hat das Thema „Islam“ in der öffentlichen Debatte wieder einmal für eine übertriebene Aufregung gesorgt. Die Personalie Özkan, das Buch von Thilo Sarrazin und die Rede von Bundespräsident Wulff zum 3. Oktober 2010 haben gezeigt, dass in der Bevölkerung ein tiefsitzendes Misstrauen gegenüber dem Islam und Muslimen virulent ist. Eine Umfrage förderte sogar das Ergebnis zutage, in Deutschland seien anti-islamische Tendenzen stärker als in den Nachbarländern.
Während in anderen europäischen Ländern Minarett-, Burka- und Verschleierungsverbote erlassen wurden, schien die Bundesrepublik im Vergleich dazu eine Insel der Friedfertigen zu sein. Hier gab es keine Gesetzesinitiativen zur Beschneidung religiöser Praktiken der Muslime. Anders als in unseren europäischen Nachbarstaaten, wo sich etablierte Rechtsparteien mit populistischen Führergestalten (z. B. Geert Wilders) zum Sprachrohr einer anti-islamischen Stimmung proklamieren, kann in Deutschland eine solch organisierte Strömung parteimäßig schlecht Fuß fassen. In An sätzen hat dies Pro-Köln oder Pro-NRW versucht, ist aber letztendlich gescheitert.
Die Gründe hierfür liegen wahrscheinlich in der jüngeren deutschen Geschichte. Zwischen 1933 und 1945 hat es schon einmal eine Partei gegeben, die zur Jagd auf eine Minderheit aufrief. Die Deutschen haben schmerzhaft gelernt, in welch einen totalen und katastrophalen Zusammenbruch dies führte. Sie mögen daher heute – rund 65 Jahre nach diesem Desaster – keine Partei unterstützen, die offene und aggressive Kampagnen gegen Minderheiten führt.
Dennoch unterscheiden sich die Meinungsbilder der Deutschen über Muslime und muslimisches Leben in Umfragen kaum von den Ergebnissen anderer europäischer Länder. So haben beispielsweise Umfragen ergeben, dass eine Kampagne für ein Minarettverbot auch in Deutschland eine Mehrheit erhalten hätte. Auch wenn es noch an populistischen Führungsfiguren und Rechtsaußenparteien in Deutschland mangelt, denken die Deutschen im Kern über die religiösen Überzeugungen der Muslime dasselbe wie die europäischen Nachbarn. Dies hat die Debatte über die Thesen von Thilo Sarrazin mit aller Deutlichkeit gezeigt.
Die Kirchen müssen sich fragen, wie sie auf diese Entwicklungen reagieren wollen. In meiner Einleitung zu dem Buch „Kirche und Islam im Dialog“ habe ich geschrieben: „Die Kirche hat mit ihrer Positionierung im Dialog mit dem Islam bewiesen, dass sie in der Moderne angekommen ist. Sie kann daher als gewichtiger gesellschaftspolitischer Akteur im Europa des 21. Jahrhunderts agieren. Ihr gesellschaftliches Gewicht hängt aber maßgeblich davon ab, inwieweit sie ihre Anhängerschaft auch im Dialog mit dem Islam von ihren Positionen überzeugen kann. Hierfür Konzepte zu entwickeln, gehört zu den Zukunftsaufgaben der Kirche in Europa.“
Das Jahr 2010 hat nachhaltig gezeigt, welch wichtige Impulse die öffentliche Debatte über den Islam z. B. aus dem christlichen Menschenbild gewinnen könnte. Wenn auch die Muslime als Geschöpfe Gottes anerkannt und behandelt würden, dann würde dies zu einer nachhaltigen Deeskalation des öffentlichen Diskurses über den Islam führen und damit zu einer Versachlichung. Die Kirchen haben die Mittel hierzu in der Hand. Es wird Zeit, dass sie sich hierauf besinnen.
Herzlichst
Ihr Peter Hünseler
Inhaltsverzeichnis
Editorial
Studien
„Unser Leben war gegeben …“
Die Mönche von Tibhirine als Zeugen der Liebe in Algerien 156
Die Sonderversammlung der Bischofssynode für den Nahen Osten
von Harald Suermann 165
Islamische Geschichte als Heilsgeschichte?
Quellen zur Geschichte des Islams und ihre geschichtswissenschaftliche Bearbeitung
von Tilman Nagel 173
Dokumentation
Papst vor Religionsführern: „Arbeiten ,Seite an Seite‘ hat große Wichtigkeit“
Ansprache von Papst Benedikt XVI. vor führenden Religionsvertretern im St. Mary’s University College in Twickenham (London Borough of Richmond) am 17.09.2010 180
Rede des Bundespräsidenten Christian Wulff vor der Großen Nationalversammlung der Türkei 182
Abschlussbotschaft der Synode für den Mittleren Osten 185
Stellungnahme von Fachvertreterinnen und -vertretern der Islamwissenschaft und benachbarter akademischer Disziplinen zur Einrichtung des Faches „Islamische Studien“ an deutschen Universitäten 188
Berichte
„Dem Menschen dienen“
Bericht zur Tagung „Dem Menschen dienen – Spiritualität und Bildung am Beispiel der Schulen der Gülen-Bewegung und der Jesuiten“ vom 27.11.2010
von Matthias Böhm 189
Glaube, Religion und Politik
Tagungsbericht zur Jahrestagung des Forschungskolloquiums Christentum-Islam
von Sandra Lenke, Katrin Visse und Thomas Würtz 192
Berichte über die Imamefortbildung in Frankfurt am Main
Interreligiöse Vernetzung als Voraussetzung für die Frankfurter Imamefortbildung
Zur katholischen Mitarbeit in der Frankfurter Imamefortbildung
von Brigitta Sassin 194
Imame für Frankfurt – Würden- und Verantwortungsträger
Fortbildungsreihe für Imame, muslimische Seelsorgerinnen und Seelsorger
in Frankfurt am Main
von Vera Klinger und Magdalena Modler 196
Buchbesprechungen
Tariq Ramadan: Radikale Reform. Die Botschaft des Islam für die moderne Gesellschaft
von Ralph Ghadban 199
Walter Homolka u. a. (Hrsg.): Muslime zwischen Tradition und Moderne.
Die Gülen-Bewegung als Brücke zwischen den Kulturen
von Tobias Specker SJ 201
Nina Wiedl: Dawa. Der Ruf zum Islam in Europa
von Andreas Renz 203
Literaturhinweise 204
Neuanschaffungen der CIBEDO-Bibliothek 205
Zeitschriftenschau 206