Liebe Leserinnen und Leser,
der interreligiöse wie auch der gesellschaftliche Dialog, so könnte man in diesen Tagen meinen, ist ein selten gewordenes Gut. Die populistischen Töne aus dem US-Wahlkampf, aber auch aus europäischen Ländern lassen aufhorchen und verheißen nichts Gutes! Derweil ziehen die unverhältnismäßigen Reaktionen der türkischen Behörden auf den missglückten Putschversuch weite Kreise. Obwohl die türkische Regierung bis heute noch keine glaubwürdigen und eindeutigen Beweise darüber vorlegen kann, dass die „Gülen-Bewegung“ in Gänze bzw. Fethullah Gülen hinter dem Putsch steht, hat die türkische Religionsbehörde Diyanet am 10.10.2016 ein Gutachten über das Religionsverständnis dieser Bewegung veröffentlicht. Dieses Gutachten setzt sich aus dem Inhalt von 20 Einzelbeschlüssen zusammen, die der Hohe Rat für Religion in einer außerordentlichen Sitzung am 3.8.2016 gefasst hat. An dieser Sitzung hatten Staatspräsident Erdoğan, Parlamentspräsident Kahraman und der stellvertretende Ministerpräsident Kurtulmuş teilgenommen. Sowohl ihre Redebeiträge als auch die Ansprache des Diyanetpräsidenten Görmez sind dem Gutachten vorangestellt. Der Hohe Rat für Religion, die höchste religiöse Autorität der Türkei, bezeichnet in diesen außerordentlichen Beschlüssen die Gülen-Bewegung zusammenfassend als eine „Organisation für religiösen Missbrauch “ („Dini istismar hareketi“). Görmez bezichtigt die Bewegung, ein „trojanisches Pferd“ zu sein, das „im Dienste böser Mächte („şer güçlere hizmet“) stehe und im Gewand einer caritativen Organisation die Gemeinschaft Muhammads („ümmet-i Muhammed“)“ betrogen habe (S. 29). Dieser Vorwurf wird in Abschnitt 7 des Gutachtens konkretisiert: „Die in der interreligiösen Dialogarbeit sehr aktive [Terror-]Organisation pflegt sehr wohlwollende Beziehungen zu den Nichtmuslimen aber verhält sich sehr kühl gegenüber Muslimen, die ihr nicht angehören“. Die „bösen Mächte“ werden mit den Dialogpartnern der Gülen-Bewegung gleichgesetzt und es wird an den koranischen Grundsatz in Sure 5,51 erinnert, welcher besagt, dass die gläubigen Muslime sich Juden und Christen nicht zu Freunden nehmen sollten. Damit macht sich die höchste religiöse Autorität der Türkei eine fragwürdige Sichtweise zu Eigen, die aus wahhabitischen und salafistischen Kreisen bekannt ist.
Artikel 12 verdeutlicht die Bezeichnung „trojanisches Pferd“. Indem Fethullah Gülen das Dialogverständnis der kath. Kirche, wie es durch das II. Vatikanischen Konzil formuliert ist und durch den Päpstlichen Rat für den Interreligiösen Dialog umgesetzt wird, angeblich übernimmt und sich unterstützend engagiert, verdeutliche er seine „Verbundenheit mit der christlichen Kultur“ („Hristiyan kültürüne bağlılığını“). Mit solchen Aussagen übernimmt die höchste religiöse Autorität für den sunnitischen Islam in der Türkei die haltlose Verschwörungstheorie, Gülen sei ein christlicher Agent, der durch den interreligiösen Dialog den muslimischen Glauben zerstören soll, und verleiht ihr gewissermaßen lehramtliche Verbindlichkeit.
Ich empfehle den Text des Gutachtens zur sorgfältigen Lektüre: denn er veranschaulicht eindrucksvoll, wie die türkische Religionsbehörde in der gegenwärtigen politischen Lage agiert.
Schließlich muss man sich auch fragen, welche Konsequenzen das Dokument für das Verhältnis von DITIB und der Gülen-Bewegung und das friedliche Miteinander der Religionen in Deutschland mit sich bringen kann. Immerhin erklärt es die Gülen-Bewegung unmissverständlich zu einer terroristischen Organisation, die den Islam verrate und daher im Islam keinen Platz mehr habe. Es bleibt dringend zu hoffen, dass DITIB sich solche Diffamierung nicht zu Eigen machen wird.
Auch in dieser Situation gelten die Worte von Papst Franziskus: „Wir sind aufgefordert, eine Kultur des Dialogs zu fördern, indem wir mit allen Mitteln Instanzen zu eröffnen suchen, damit dieser Dialog möglich wird“.
In diesem Sinne gesegnete Weihnachten und einen guten Start in das neue Jahr 2017!
Dr. Timo Güzelmansur
Inhalt
Studien
„Und meine Barmherzigkeit umfasst alle Dinge“ (Koran 7:156).
Das islamische Menschenbild und die Seelsorge im Islam
Abdullah Takim 134
Sorge tragen für ein wenig mehr „Leben in Fülle“ (Johannes 10,10). Christliche Krankenhausseelsorge auf der Basis des christlichen Menschenbildes.
Impulse im Blick auf Islamische Seelsorge
Doris Nauer 145
Volksmoschee? Religiöser Alltag in DİTİB-Moscheegemeinden in Deutschland
Theresa Beilschmidt 154
Dokumentation
„Nichts ist verloren, wenn man wirklich den Dialog praktiziert.“
Papst Franziskus, Weltgebetstag für den Frieden, 20. Sept. 2016 161
„Friede ist der Name Gottes.“
Grußbotschaft der DBK an die Aleviten in Deutschland 164
„Wir verpflichten uns, keine Zerrbilder der anderen Religion zu zeichnen und den interreligiösen Dialog zu suchen.“
Das Dresdner Wort der Religionen
zum Tag der deutschen Einheit 2016 165
Berichte
Dialog als Ort der Begegnung von Gott und den Menschen
Klaus Vellguth 166
Ex Oriente Lux.
Bericht der fünften CIBEDO-Werkstatt
Nora Kalbarczyk 172
„Kriegsspuren – Friedensspuren“.
Interreligiöses Friedensgebet in Würselen
Dieter F. Griemens 174
Der Islam im Plural. Die erste internationale
Konferenz des Netzwerkes „Pluriel“
Tobias Specker SJ 175
„Rahma“ – Muslimische und christliche Studien zur „Barmherzigkeit“.
Dirk Ansorge 176
Buchbesprechungen
Timo Güzelmansur/Tobias Specker SJ
(Hg.): Paulus von Tarsus, Architekt des Christentums? Islamische Deutungen und christliche Reaktionen
Nora Schmidt 178
Mohamed Turki: Einführung in die arabisch-islamische Philosophie
Markus Kneer 179
Literaturhinweise 182
Zeitschriftenschau 183
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