Von Annette Steinich (KNA)
Houmt Souk/Djerba (KNA) Hunderte Kerzen flackern im Gebetsraum der weiß getünchten GhribaSynagoge im Herzen der Insel Djerba. Draußen flattern lange Wimpelketten mit tunesischen Fahnen. Im Gebetssaal ausgelassene Feststimmung.
Es wird gebetet und gesungen, geklatscht, getrommelt und getanzt. Juden aus der ganzen Welt pilgern zur Ghriba, der ältesten Synagoge Nordafrikas. Der Legende nach wurde sie schon 586 vor Christus auf Steinen des zerstörten Jerusalemer Tempels erbaut. Wer hier herkommt, will feiern und glaubt an Wunder. La Ghriba heißt auf Arabisch “die Erstaunliche”; dem Volksglauben nach überlebte hier eine schöne Unbekannte wundersam eine Feuersbrunst.
Heute schreiben vor allem die Frauen ihre Wünsche, meist nach einem liebevollen Ehemann und vielen Kindern, auf die Schale eines hartgekochten Eis und legen sie in die Grotte unter der Synagoge. Nach dem Gebet geht es zum gut gelaunten Rabbi, der auf jeden Segen einen Boukha trinkt, den tunesischen Feigenschnaps. Die Frauen nehmen ihre bunten Kopftücher ab und schmücken damit den Wagen mit der Menora, der am Sonntag zum Ende der dreitägigen Wallfahrt in einer ausgelassenen Prozession vor die Synagoge gezogen wird. Soldaten stehen Spalier. Die Insel, die vom Tourismus lebt, ist in diesen Tagen Hochsicherheitstrakt.
Fast 2.000 Polizisten und Soldaten sind im Einsatz. Auf den Dächern rund um die Synagoge stehen Scharfschützen mit Gesichtsmaske. Die schwer bewaffneten Brigaden der Antiterroreinheit bewachen den Eingang. Dort erinnert eine kleine Steintafel an den islamistischen Anschlag vor 15 Jahren, bei dem mehr als 20 Menschen durch einen explodierenden Tanklaster ums Leben kamen. Die meisten von ihnen waren deutsche Touristen. Israels Regierung hatte wie schon in den vergangenen Jahren von einer Reise nach Djerba abgeraten – und stattdessen alle jüdischen Wallfahrer nach Israel eingeladen.
Doch Synagogenvorsteher Perez Trabelsi ist gelassen: “Wir Juden sind in diesem Land sicher.” Am Sonntagmorgen war Ministerpräsident Youssef Chahed mit seinem Innenminister auf einen Blitzbesuch aus Tunis bei ihm. Er wollte zum Fest gratulieren und sich persönlich überzeugen, dass alle Sicherheitsvorkehrungen getroffen sind. 2015 verübten Islamisten in Tunesien mehrere blutige Terroranschläge, die die Tourismusbranche empfindlich trafen. Wenn die Wallfahrt zum Saisonauftakt gut läuft, besteht Hoffnung auf einen Wirtschaftsaufschwung. Überlebensnotwendig für die junge Demokratie. Seit einigen Wochen kommt es in den vernachlässigten Regionen im Süden und Landesinneren zu sozialen Unruhen und Protesten vor allem junger Tunesier. Sie warten bislang vergeblich darauf, dass sich die Revolution von 2011 für sie auch wirtschaftlich auszahlt. Zumindest hier auf Djerba scheint es langsam wieder bergauf zu gehen. Mehr als 2.000 ausländische Besucher hatten sich für die Ghriba-Wallfahrt angemeldet – davon dennoch fast 600 aus Israel.
Etwa 1.000 tunesische Juden sind gekommen – und viele Anwohner von der Insel. “Wir feiern gemeinsam, weil wir alle Tunesier sind”, sagt Perez Trabelsi lachend. Vor der Revolution von 2011 hatte Diktator Zinedine Ben Ali Nichtjuden den Zugang zum Synagogen-Gelände verboten. “Heute profitieren wir alle von der Freiheit – jüdische und muslimische Tunesier”, ergänzt Viktor, der Sohn des Synagogenvorstehers. So viele Pilger wie in diesem Jahr habe es das letzte Mal vor zehn Jahren gegeben. Die jüdische Gemeinde im Land ist klein. Waren es in den 1960er Jahren noch mehr als 100.000, so leben heute nur noch gut 3.000 Juden in Tunesien, vor allem im Süden. Nach dem Sechstagekrieg 1967 sind viele nach Frankreich oder Israel ausgewandert. Wer heute zurückkommt zur Ghriba, die immer 33 Tage nach dem Pessach-Fest stattfindet, ist auf der Suche nach seinen Wurzeln.
So wie Isabelle Selam aus Paris, die Tunesien als Kleinkind mit ihrer Familie wegging: “Meine Eltern und Großeltern sind immer zur Ghriba gepilgert”, sagt sie. “Deshalb ist meine Heimat auch hier.” Auf Djerba haben Juden und Muslime seit Jahrhunderten Übung im friedlichen Zusammenleben. “Die Vielfalt der Kulturen und Religionen macht den Reichtum Tunesiens aus”, sagt Tourismusministerin Salma Elloumi. Kulturminister Mohammed Zine Abidine pflichtet ihr bei: “Tunesien ist ein Land des Dialogs, und die Ghriba ist dafür das Symbol.” Und: Nur deshalb sei Tunesien als einziges Land der Region auf dem schwierigen Weg in die Demokratie bislang so weit gekommen.
(KNA – rkplo-89-00049)