Von Philipp Mattheis (KNA) Istanbul (KNA) Jedes Jahr am 28. Mai machen sich Tausende Aleviten auf, den Schrein des heiligen Apaziz zu besuchen.
Das Grab liegt in der Provinz Adiyaman, im Südosten der Türkei in einem kleinen Dorf, zwischen den Städten Gaziantep und Diyarbakir. Sie essen dort “Lokma”, eine traditionelle süße Teigspeise, singen Lieder und beten. Apaziz ist ein Heiliger der Aleviten, der zweitgrößten Religionsgemeinschaft der Türkei. 12 bis 20 Millionen Gläubige zählt sie, also bis zu einem Viertel der ansonsten sunnitischen Bevölkerung des Landes.
Dieses Jahr aber untersagte die Regierung das Fest. Als rechtliche Basis für das Verbot diente der seit nun fast einem Jahr geltende Ausnahmezustand in der Türkei. Die Behörden in Ankara führten an, die Skizze einer alevitischen Kultureinrichtung sei bei zwei IS-Mitgliedern gefunden worden, die am 21. Mai erschossen wurden. Die Terroristen hätten einen Anschlag geplant. Die Sicherheit könne nicht mehr gewährleistet werden. In der alevitischen Gemeinde ist man längst alarmiert. Man fürchtet, der IS könne die Spannungen zwischen Sunniten und Aleviten in der Türkei verschärfen. Gani Kaplan, Vorsitzender der Kulturvereinigung Pir Sultan Abdal, sagte diese Woche der türkischen Presse: “Die Behörden sagen ständig, dass wir bedroht sind und Sicherheitsvorkehrungen treffen sollten.”
Laut Kaplan seien die Spannungen zwischen Sunniten und Aleviten mittlerweile so groß, dass sie jederzeit eskalieren könnten. Viele Aleviten misstrauen den türkischen Sicherheitsbehörden. Zum einen, weil sie ihnen einen ausreichenden Schutz nicht zutrauen. Zum anderen, weil der Staat selbst immer wieder die alevitische Gemeinde diskriminiere. Viele Aleviten klagten in den vergangenen Jahren über eine zunehmende “Sunnifizierung”. Die alevitische Glaubensgemeinschaft in der Türkei gilt als laizistisch und gemäßigt – was sie wiederum in Gegnerschaft zur Regierungspartei AKP bringt, die ihre Stammwählerschaft aus der gläubigsunnitischen Mehrheit rekrutiert.
Viele Aleviten erinnern sich noch an den 2. Juli 1993, als ein Mob in Sivas ein Hotel anzündete, in dem ein alevitisches Kulturfestival stattfand. 37 Menschen starben – während die Meute vor dem Gebäude johlte. Warum die Feuerwehr damals nicht früher eingriff, ist bis heute ungeklärt. Auch nach dem fehlgeschlagenen Putsch vom 16. Juli 2016 fürchteten viele Aleviten um ihre Sicherheit.
In den ersten Tagen danach kam es in Istanbul zu Ausschreitungen gegen Aleviten. Noch im April 2016 urteilte der Europäische Menschenrechtsgerichtshof, dass die Türkei die Religionsfreiheit der Aleviten verletze. Nach Ansicht der Richter herrscht ein “eklatantes Ungleichgewicht” zwischen ihnen und der sunnitischen Mehrheit. Die Diskriminierung beginne schon damit, dass die Aleviten nicht als eigenständige Religion anerkannt werden, sondern schlicht als Muslime gelten. Sie erhalten keine Fördermittel, und ihre Geistlichen sind nicht als Beamte anerkannt. Beides fordern alevitische Repräsentanten seit langem. Die Glaubensrichtung hat ihren Ursprung bei turkmenischen Stämmen, die im 13. und 14. Jahrhundert nach Anatolien einwanderten.
Das Alevitentum hat Ähnlichkeiten mit dem schiitischen Islam, da dessen erster Imam Ali hochverehrt wird. Es gibt aber auch deutliche Unterschiede. Aleviten beten nicht in Moscheen, sondern in sogenannten “Cemevleri” (“Cem-Häusern”), meist privaten Versammlungshäusern. Außerdem legen sie den Koran nicht wörtlich aus. Ihre Frauen sind nicht verschleiert; überhaupt herrscht mehr Gleichberechtigung zwischen den Geschlechtern. Unter den Osmanen wurden Aleviten als Häretiker verfolgt; immer wieder kam es zu Pogromen. Als alarmierend empfanden viele Aleviten, als die 2016 fertiggestellte dritte Bosporus-Brücke nach Sultan Yavuz Selim benannt wurde, der im 16. Jahrhundert mehr als 40.000 Aleviten ermordet haben soll. – In Deutschland ist die alevitische Gemeinde unter den türkischen Einwanderern überdurchschnittlich groß. Schätzungen zufolge leben zwischen bei uns 400.000 und 700.000 Aleviten.
(KNA – rkqks-89-00060)