Vor kurzem wurde eine Studie zu „Identitäten, Lebenswelten und abwertenden Einstellungen von Jugendlichen in Wiener Jugendzentren präsentiert. Die Studie zeigt, dass diese Gruppe, unter der sich besonders viele Jugendliche aus armen Familien befinden, viele Probleme hat. Die Studie beschäftigt sich unter anderem mit Radikalisierungsgefahren muslimischer Jugendlicher, ein Aspekt der medial besonders aufgegriffen wurde, sie zeigt aber auch, dass das Problem insgesamt größer ist.
Handelt es sich um eine Studie über muslimische Jugendliche in Wien?
Nein, die Studie beschäftigt sich mit Jugendlichen, die Wiener Jugendzentren besuchen. Wie die Autoren selbst schrieben, handelt es sich dabei um Jugendliche, die Großteile aus sozioökonomisch schwachen Familien kommen. Es handelt sich also nicht um eine Studie über alle muslimischen Jugendlichen oder gar alle Jugendlichen in Wien sondern am ehesten um eine Studie über städtische, armutsgefährdete Jugendliche.
Wer wurde befragt?
Für die Studie wurde von November 2014 bis Jänner 2015 insgesamt 401 Jugendliche aus Wien zwischen 14 und 24 Jahren befragt. Wobei 90 Prozent der Jugendlichen jünger als 18 Jahre waren. In dieser Gruppe sind Männer stark überrepräsentiert denn 70 Prozent der Befragten sind Männer und nur 30 Prozent sind Frauen.
Wer sind die Jugendlichen?
Ihre Familien kommen zumeist aus dem traditionellen Arbeitermilieu und die Wohnverhältnisse sind oft beengt. Denn 74 Prozent haben zumindest noch zwei weitere Geschwister. Ihre Eltern haben zu 54 Prozent maximal einen Lehrabschluss. Immerhin 36,5 Prozent haben Matura oder ein Studium absolviert. Doch sind die Bildungsabschlüsse der Eltern meist im Ausland erworben worden. Sie werden hierzulande also nicht immer anerkannt. Die meisten Jugendlichen sind noch in Ausbildung, ihre Eltern konnten sie bildungstechnisch noch nicht überholen. 31 Prozent der Jugendlichen haben nur einen Pflichtschulabschluss und 32 Prozent einen Lehrabschluss. Nur 34 Prozent besuchen höhere Schulen. Die Bildungsabschlüsse sind damit deutlich niedriger als im Wiener Schnitt. 80 Prozent der Jugendlichen besuchen allerdings noch die Schule und nur 20 Prozent haben sie bereits abgeschlossen. Das kann sich also noch ändern. Von denjenigen, die die Schule abgeschlossen haben, sind 18 Prozent arbeitslos und damit deutlich mehr als die 13 Prozent, die es sonst in Wien in dieser Altersgruppe sind.
Warum regt die Studie viele auf?
In eigenen Kapiteln wurde die Radikalisierung beziehungsweise Radikalisierungsgefährdung muslimischer Jugendlicher abgefragt. Es zeigt sich, dass unter männlichen jugendlichen Muslimen, die Jugendzentren besuchen, viele gefährdet sind, radikalisiert zu werden. Für Kritik sorgte auch, dass die Befragung bereits im Jänner 2015 endete, die Studie aber erst jetzt veröffentlicht wurde. Das Büro der zuständigen Stadträtin Sandra Frauenberger streitet ab, dass die Studie zurückgehalten wurde, vielmehr hätte sie zuerst wissenschaftlich ausgewertet werden müssen.
Welche Vorurteile haben die Jugendlichen?
Die befragten Jugendlichen sind sehr jung. 90 Prozent von ihnen sind nicht volljährig. In der Studie wird auch explizit darauf hingewiesen, dass Sozialarbeiter feststellen, dass radikale Ansichten auch benützt werden, um Erwachsene zu provozieren und ihre Reaktionen abzutesten. Dennoch gibt es besorgniserregende Tendenzen. Elf Prozent aller Jugendlichen finden tendenziell nicht, dass jeder immer seine Meinung sagen sollte. 19 Prozent hätten tendenziell lieber einen starken Führer als Parteien. Insgesamt weisen etwa 28,9 Prozent aller Jugendlichen zumindest eine schwache Distanzierung zur Demokratie auf. In der Gesamtbevölkerung ist diese Distanz zur Demokratie aber möglicherweise noch weit stärker ausgeprägt als unter den Jugendlichen. So verweist Thomas Hofinger von Sora in einem Interview mit dem „Falter“ darauf, dass heute nur rund 36 Prozent der Österreicher die Aussage „wir brauchen einen starken Führer, der sich nicht um Parlament und Wahlen kümmern muss“ voll ablehnen würden.
Wie religiös sind die Jugendlichen?
Die Jugendlichen sind tendenziell religiöser als die Gesamtbevölkerung. Unter ihnen sind 55 Prozent muslimisch, 22 Prozent katholisch und 14 Prozent orthodox. Die Jugendlichen, die wie bereits beschrieben tendenziell aus ärmeren Familien kommen dürften, haben zu 85 Prozent einen Migrationshintergrund. 38 Prozent von ihnen sind selbst nach Österreich gekommen. Die größte Gruppe sind mit etwa 33 Prozent Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund, 20 Prozent kommen aus dem ehemaligen Jugoslawien und etwa acht Prozent aus Tschetschenien. 62 Prozent der Jugendlichen sind etwas religiös. 18 Prozent sind sehr religiös. Allerdings sind unter den katholischen Jugendlichen nur 11 Prozent sehr religiös, bei den muslimischen Jugendlichen sind es 23 Prozent. Umgekehrt sind 39 Prozent der katholischen Jugendlichen bloße Taufscheinkatholiken, wohingegen nur elf Prozent der muslimischen Jugendlichen sich als nicht religiös bezeichnen. Insgesamt sind 53 Prozent der muslimischen Jugendlichen stark oder sehr stark religiös. Gebildetere Jugendliche sind dabei genauso religiös wie weniger Gebildete. Die Freundeskreise der Jugendlichen, auch diejenigen der stark Religiösen, sind oft gemischt und bestehen nicht nur aus stark Religiösen.
Was verstehen die Jugendlichen unter Religiosität?
Religion hat für sie eine starke soziale Komponente. So hat der Moscheebesuch beispielswiese oft eine sehr ähnliche Funktion wie der Besuch im Jugendzentrum. Es geht um Tradition und die Akzeptanz traditionelle Autoritäten insbesondere der Eltern, um Vorstellungen von Gesellschaft, die sich anhand von traditionellen Geschlechterbildern orientieren. Es geht aber auch um Werte, so lehnen 21 Prozent der katholischen und 62 Prozent der muslimischen Jugendlichen vorehelichen Geschlechtsverkehr ab. Wobei die Religion hier patriarchale Vorstellungen schlägt, denn unter muslimischen Jugendlichen ist diese inzwischen kaum mehr akzeptierter als unter Frauen. Mit der Religiosität geht auch eine Ablehnung von Homosexualität einher. 46 Prozent lehnen Homosexualität ab, unter muslimischen Jugendlichen sind es sogar 59 Prozent. Neben einem angeblichen Sittenverfall fürchten die Jugendlichen hier auch um ihre eigene Männlichkeit. Abgelehnt wird von strenger religiösen Jugendlichen auch das trinken von Alkohol. 52 Prozent der muslimischen Jugendlichen finden, dass Frauen ein Kopftuch tragen sollten.
Sind die Jugendlichen antisemitisch?
66 Prozent der Jugendlichen werten andere Jugendliche aus rassistischen Gründen kaum oder nie herab. Allerdings sind es bei muslimischen Jugendlichen nur etwa 55 Prozent. Kein Problem sind hingegen die Beziehungen zwischen Islam und Christentum. Wechselseitig gibt es kaum Abwertungen, was damit zusammenhängt, dass gerade die Gruppe diese Jugendlichen auch über die Jugendzentren oft Freundschaften über Religionen hinweg hat und sich solche Vorurteile über Kontakt häufig abbauen. Problematisch hoch ist hingegen das Level an Antisemitismus. 47 Prozent der muslimischen Jugendlichen haben starke antisemitische Stereotype, auch bei den Orthodoxen sind es immer noch 22 Prozent. Bei den katholischen Jugendlichen haben hingegen nur sieben Prozent solche Vorurteile.
Welches Problem gibt es mit Radikalisierung?
Fast alle Jugendlichen haben nur ein sehr schwaches mediales Verständnis. Außer Gratiszeitungen haben sie kaum Kontakt mit Medien, stehen diesen aber sehr kritisch gegenüber. Sie sind anfällig für Verschwörungstheorien und haben kaum Kompetenzen Einzuschätzen, den Wahrheitsgehalt von Informationen abzuschätzen. Unter den muslimischen Jugendlichen gibt es zusätzlich einen Teil, der sich radikalisiert hat. Unter ihnen gibt es eine gewisse Begeisterung für den Jihad. 22 Prozent können ihm auch positive Seiten abgewinnen. Ganze 34 Prozent glauben, dass sich die muslimische Welt gewaltsam gegen den Westen wehren muss. 44,7 Prozent finden, dass die Vorschriften des Islam wichtiger sind als die Gesetze. Und 66 Prozent denken, dass der Westen die islamische Welt unterdrückt.
Sind alle muslimischen Jugendlichen radikal?
Keineswegs, die Studie unterteilt drei Gruppen. Die größte ist diejenige der relativ liberalen Muslime. Zu ihr gehören auch fast alle Mädchen. Aber etwa 27 Prozent sind latent gefährdet, radikalisiert zu werden. Bei den Mädchen sind das nur drei Prozent, bei den Buben hingegen 33 Prozent. Besonders gefährdet sind Jugendliche, die im Ausland geboren sind und ganz besonders tschetschenische Jugendliche. Wer gefährdet ist, ist auch eher bereit Gewalt anzuwenden. 71,5 Prozent aller von dieser Radikalisierung gefährdeten Jugendlichen gaben an, dass sie sich vorstellen könnten, bei Religionsbeleidigungen auch zuzuschlagen. Bei Ehrenbeleidigungen waren es sogar 75 Prozent.
Werden die Jugendlichen selbst diskriminiert?
Die meisten Jugendlichen haben selbst keine Diskriminierungserfahrung gemacht, mit steigender Bildung steigt aber auch die Diskriminierungserfahrung. Da die Mittelschicht versucht ihre Kinder in die Gymnasien zu bringen, werden Neue Mittelschulen und Polytechnische Schulen häufig fast nur mehr von Jugendlichen mit Migrationshintergrund besucht. Dieses Umfeld führt zwar zu deutlich schlechteren Bildungschancen im Leben es dürfte durch seine Homogenität aber auch Diskriminierung verhindern. In Höheren Schulen, wo die Jugendlichen mit Migrationshintergrund häufig eine Minderheit sind, machen sie öfter Diskriminierungserfahrungen. Insgesamt berichten in andere Studien erwachsene Zuwanderer sehr viel häufiger über Diskriminierungen. Die Jugendlichen dürften noch nicht im selben Ausmaß diese Erfahrungen gemacht haben. Allerdings machen sie sich wegen Diskriminierung Sorgen.
Ist die Studie noch aktuell?
Die Jugendlichen wurden bis Anfang 2015 befragt, die Einstellungen derjenigen Jugendlichen, die vergangenen Sommer im Zuge der großen Flucht nach Österreich kamen, wurden also nicht befragt. Auch fand die Befragung vor den schweren Anschlägen des heurigen und vergangenen Jahres statt und am Höhepunkt der militärischen Macht des Islamischen Staates. Seither musste dieser zahlreiche schwere militärische Niederlagen hinnehmen. Ob die Anziehungskraft des Islamischen Staates für Jugendliche dadurch nachgelassen hat, ist also unklar. Ganz generell lässt die Studie nur Aussagen über Jugendliche zu, die Wiener Jugendzentren besucht haben. Wer keine Jugendzentren besucht, wurde auch nicht erfasst.
Wie stehen die Jugendlichen zu Österreich?
Die meisten Jugendlichen haben eine starke Identifikation mit Österreich und noch mehr haben eine Identifikation mit Wien oder ihrem Wohnbezirk. Lediglich unter Jugendlichen aus Tschetschenien ist die Identifikation mit Österreich schwach. 45 Prozent identifizieren sich gar nicht mit Österreich und 19 Prozent nur schwach. Für sie ist es auch schwieriger als beispielsweise für türkische Jugendliche ihre verschiedenen Identitäten unter einen Hut zu bekommen. Eine muslimische, eine tschetschenische und eine österreichische Identität werden hier stärker als einander ausschließend empfunden als unter türkischen Jugendlichen. Allerdings sind die tschetschenischen Jugendlichen oft erst wenige Jahre in Österreich, wohingegen die meisten türkischen Jugendlichen in zweiter oder dritter Generation in Österreich leben.
Gibt es Positives auch zu berichten?
Es gibt auch sehr viele positive Entwicklungen. Beispielswiese sind die Deutschkenntnisse der Jugendlichen offenbar relativ gut. 87 Prozent der für die Studie befragten Jugendlichen hatten kein Problem mit den auf Deutsch gestellten Fragen. 10 Prozent verstanden die Fragen mäßig gut und nur drei Prozent mussten durch Dolmetscher unterstützt werden. Positiv ist auch die Entwicklung beiden Mädchen. Diese sind nicht nur liberaler und haben weniger Vorurteile unter jungen Musliminnen gibt es auch kaum Radikalisierungstendenzen. Positiv ist auch, dass die Jugendlichen trotz ihres meist relativ niedrigen Bildungsstandes und vieler beruflicher und sonstiger Sorgen, meist sehr positiv in die Zukunft sehen. Sie haben überwiegend keine eigenen Diskriminierungserfahrungen gemacht und hoffen auf eine bessere Zukunft für sich als sie ihre Eltern hatten.
Gibt es ein Fazit der Studie?
Die Studie zeigt die verschiedenen Probleme einer Gruppe von Jugendlichen auf, die es nicht leicht hat. Wer die Wiener Jugendzentren nützt, ist meist aus einer finanziell schwachen Familie, hat Zuhause häufig beengte Wohnverhältnisse und niedrigere Bildungsabschlüsse und schlechtere Jobchancen als die Mehrheitsgesellschaft. Für eine allgemeine Vergleichbarkeit wäre es wünschenswert, wenn eine solche Studie über alle Jugendlichen in Wien oder auch in Österreich durchgeführt würde und nicht nur über diese Gruppe. Bei allen Jugendlichen, die in der Studie befragt wurden, zeigen sich in manchen Gruppen latente Neigungen zum Autoritarismus, die Mehrheit lehnt das aber bei christlichen, wie auch bei muslimischen Jugendlichen ab. Die Studie zeigt einmal mehr, dass es bei jungen, islamischen Männern einige Gruppen gibt, die von Radikalisierung gefährdet sind und die die zum Teil Werte vertreten, die mit einer liberalen Gesellschaft kaum vereinbar sind. Die Studie zeigt aber auch, dass die Jugendzentren als Begegnungsort funktionieren und auch dabei helfen, dass sich Jugendliche begegnen, die sonst vielleicht nur wenig miteinander zu tun haben. Und es zeigt, sich dass die Jugendlichen in diesem Alter noch relativ optimistisch in die eigene Zukunft blicken. Es gibt also offenbar Möglichkeiten, sie noch zu erreichen.