Minderheiten in der Türkei haben Angst vor der Zukunft

Von Philipp Mattheis (KNA)

Istanbul (KNA) Kurz nach dem Putschversuch am 16. Juli ging in den mehrheitlich von Aleviten bewohnten Stadtteilen Istanbuls die Angst um.

“Meine Mutter sagte mir: Sag bloß niemandem, dass Du Alevitin bist”, erzählt Neila. “Sie hatte Angst, dass mich Sunniten angreifen.” Ihren echten Namen möchte die Frau nicht nennen. Die Religionsgruppe der Aleviten ist auch für ihre säkulare und liberale Lebensweise bekannt und war in der türkischen Geschichte immer wieder Ziel von Angriffen. Sie macht, je nach Schätzung, zwischen 15 und 30 Prozent der türkischen Bevölkerung aus, vor allem unter den von Ankara beargwöhnten Kurden sind sie stark.

Präsident Recep Tayyip Erdogan rekrutiert seine Wähler hauptsächlich aus der sunnitischen Bevölkerungsmehrheit von etwa 70 Prozent. Er hat die Rhetorik gegen alle verschärft, die nicht dazugehören. Wähler, die beim Referendum am kommenden Sonntag mit Nein stimmen, setzte er indirekt mit Terroristen gleich. Europäer bezeichnete er als Ungläubige, Kreuzritter, Nazis.

Die Christen machen mit 100.000 bis 150.000 Gläubigen etwa 0,2 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Die größte Gruppe gehört mit 65.000 der Armenischen Apostolischen Kirche und der Armenisch-Katholischen Kirche an. Neben 2.000 griechisch-orthodoxen gibt es auch 2.000 aramäische Christen. Sie sind als Wählergruppe zu unbedeutend, werden aber durch die Rhetorik und die Spannungen mit Europa in Mitleidenschaft gezogen. Dabei hatte sich die Lage für die muslimischen und christlichen Minderheiten unter Erdogan zunächst gebessert: 2010 durfte im Kloster Sumela nahe Trabzon nach 88 Jahren wieder eine griechisch-orthodoxe Zeremonie abgehalten werden.

Die armenische Akdamar Kirche am Van See wurde 2007 als Museum eröffnet. Ebenfalls seit 2010 dürfen hier wieder einmal im Jahr Zeremonien stattfinden. Auf der Ägäis-Insel Gökceada (griech: Imbros) eröffnete 2015 wieder eine griechische Schule. 2011 verfügte Erdogan, der damals noch Ministerpräsident war, dass beschlagnahmte Immobilien und Sakralbauten der christlichen Minderheiten zurückgegeben werden sollen. Doch die Stimmung drehte sich mit der Zeit – als Wendepunkt gilt der Arabische Frühling.

Erdogan wandte sich radikaleren Moslems wie der ägyptischen Muslimbruderschaft zu. Probleme gibt es momentan an vielen Fronten. Das Oberhaupt der armenischen Kirche Patriarch Mesrob II. Mutafyan ist seit 2008 aufgrund von Krankheit unfähig, sein Amt auszuüben. Die Wahl eines Stellvertreters erklärte Ankara kurzerhand für unzulässig. Die Klosterschule Chalki auf der Prinzeninsel Heybeliada ist seit 1971 geschlossen. Sie war einst die wichtigste Ausbildungsstätte für orthodoxe Geistliche.

Allen Bitten und Appellen zum Trotz wurde sie bisher nicht wiedereröffnet. Ein Grundproblem ist zudem: Die Institutionen religiöser Minderheiten haben keinen legalen Körperschaftsstatus. Dadurch entsteht eine rechtliche Grauzone, die der Regierung in Ankara immer wieder Interventionen ermöglicht. So gilt auch der Patriarch von Konstantinopel nicht als Oberhaupt einer globalen Glaubensgemeinde, sondern nur der 2.000 Menschen zählenden griechischen Minderheit. Vor allem machte die gnadenlose Jagd auf Anhänger des Predigers Fethullah Gülen, den Ankara in der Öffentlichkeit als Drahtzieher des Putschversuchs bezichtigt, vor den religiösen Minderheiten des Landes nicht Halt.

So wurden im vergangenen Sommer der amerikanische Pastor Andrew Brunson und seine Frau Norine festgenommen. Ihm wird Mitgliedschaft bei der Gülen-Organisation und damit “Terrorismus” vorgeworfen. “Nach dem Putschversuch gab es Berichte in der regierungsnahen Presse, wonach wir etwas mit der Gülen-Bewegung zu tun hätten”, sagt Dositheos Anagnostopoulos, Pater und Sprecher des Patriarchats. Ansonsten aber habe sich die Stimmung in den vergangenen Monaten nicht wesentlich verändert. Das bestätigt auch Alexander Jernej, Superior der Österreichischen St.-Georgs-Gemeinde in Istanbul. “Wir sind gespannt auf den Ausgang des Referendums, aber das religiöse Leben hat bisher nicht gelitten.”

Sollte sich das Land nach dem Referendum aber weiter islamisieren, befürchtet auch Pfarrer Dositheos Probleme für die christlichen Minderheiten. Im Ramadan 2016 ließ Erdogan in der Hagia Sophia wieder Koranverse lesen. Es heißt, die 583 erbaute Kathedrale werde am Karfreitag in eine Moschee umgewandelt. Das Bauwerk war von 1453 bis 1935 eine Moschee, bis sie unter Staatsgründer Kemal Atatürk zu einem Museum wurde. Seitdem halten sich Gerüchte, sie würde bald wieder in eine Moschee umgewandelt werden.

Dies dürften in erster Linie wahlkampfpolitische Manöver sein, um ultrareligiöse und nationalistische Wähler für die Wahl am Sonntag zu mobilisieren. Optimisten rechnen deswegen mit einer Entspannung, sollte Erdogan sein Ziel erreichen, das Präsidialsystem. Pessimisten halten jedoch eine Mehrheitsdiktatur mit weiteren Einschränkungen für religiöse Minderheiten nicht für unwahrscheinlich. “Die Sorge ist groß, dass die Macht dazu missbraucht wird, die schon bestehenden Verletzungen ökonomischer, sozialer und kultureller Rechte weiter zu verschlimmern”, heißt es in einem Bericht des Hochkommissariats für Menschenrechte der Vereinten Nationen.

(KNA – rkoln-89-00118)