Bonn/Istanbul (KNA) Der türkische Reformtheologe Mustafa Öztürk sorgt sich um das geistige Klima in seinem Land. Derzeit versuchten traditionalistische islamische Gruppen zunehmend Kontrolle über staatliche Institutionen zu gewinnen, vor allem das türkischen Amt für Religiöse Angelegenheiten Diyanet, sagte Öztürk am Montag in einem Interview der Deutschen Welle. Die einflussreiche Behörde in Ankara steht für den türkischen Staatsislam und regelt unter anderem die Imamausbildung und die theologische Lehre an den Universitäten. Öztürk zufolge werfen die Radikalen der Diyanet vor, sie unterstütze zu liberale Denker wie ihn selbst.
Der Professor für Koranexegese an der Istanbuler Marmara-Universität erhielt in der Vergangenheit wegen seiner reformorientierten Veröffentlichungen mehrere Morddrohungen. Öztürk, ein führender Vertreter der sogenannten Ankaraner Schule, plädiert für eine zeitgemäße Auslegung des Koran, die sich am modernen Verständnis von Menschenrechten und Demokratie orientieren sollte. “Schließlich sind religiöse Texte nicht auf alle Zeiträume und gesellschaftlichen Verhältnisse anwendbar.”
Die Traditionalisten fühlten sich von diesen Ansätzen in ihren Auffassungen bedroht, so Öztürk weiter. Nach seinen Worten gibt es in der Türkei 40 bis 50 entsprechende religiöse Organisationen, mehr als die Hälfte davon versuchten, ihre Interessen nach außen durchzusetzen. “Sie müssen transparent werden”, sagte Öztürk.
Präsident Recep Tayyip Erdogan habe dazu aufgerufen, die Türkei in den Bereichen Bildung und Kultur nach vorne zu bringen. “Doch habe ich bisher keine Schritte gesehen, die in dieser Hinsicht eine Änderung bewirken könnten.” Nach Öztürks Worten hat sich an den theologischen Seminaren der Türkei stattdessen eine Atmosphäre geistiger Intoleranz ausgebreitet. “Die Studenten nehmen deinen Vortrag auf oder schreiben deine Äußerungen mit und leiten die Abschrift als offizielle Beschwerde an den Hochschulrat weiter.” Täglich gingen vier oder fünf solcher Beschwerden gegen ihn ein. Dies sei noch vor fünf bis zehn Jahren anders gewesen. “Offenbar fühlen sich heute mehr Menschen zu solchen Angriffen ermutigt.”
(KNA - tklml-89-00145) Foto: Tariq786/Pixabay