Die Türkei betet für den Sieg. Von Christoph Schmidt, Istanbul/Bonn (KNA).Wenn türkische Soldaten gegen den Feind ziehen, wie derzeit in Nordsyrien, lassen staatlich verordnete Siegesgebete in den Moscheen nicht lange auf sich warten. Auch in der vergangenen Woche seien die Menschen wieder in die 90.000 Gotteshäuser des Landes geströmt, um Gottes Segen für die Truppen im Kampf gegen die “Terroristen” der kurdischen YPG-Miliz zu erbitten, verkündete die Religionsbehörde Diyanet auf ihrer Internetseite.
Ihr Präsident Ali Erbas lobte in seiner Freitagspredigt die “enorme Kraft” der Türkei. “Diese Kraft ist unser unerschütterlicher Glaube an Allah, unsere aufrichtige Hingabe an den Islam, unsere Liebe zu unserer Heimat, Flagge und Unabhängigkeit.” Den Eltern eines gefallenen “Märtyrers” schenkte Erbas einen Koran und eine türkische Fahne.
Die Verquickung von Religion und Propaganda hat in der türkischen Republik eine lange Tradition. Nach der Entislamisierung unter Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, der den Islam als Bremse für den Fortschritt bekämpfte, folgte seit den 1950er Jahren eine Rückbesinnung auf religiöse Normen und Werte.
Als Rezept gegen die gesellschaftspolitischen Konflikte der 60er und 70er Jahre entwickelten konservative Intellektuelle schließlich das Konzept der “türkisch-islamischen Synthese”. Sie sollte den laizistischen Nationalismus mit dem traditionellen Glauben der Bevölkerung versöhnen und das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken, indem sie “Türkentum” und Islam zu einer untrennbaren Einheit verklärte.
Der reaktionäre Mix erwies sich als so wirksam, dass nach dem Putsch von 1980 auch das Militär – eigentlich der Garant des Laizismus – daran anknüpfte. Die Junta und nachfolgende Regierungen förderten einen “nationalen Religionsunterricht” an den Schulen. Auch die Unterdrückung der alevitischen Glaubensgemeinschaft, darunter viele Kurden, und der militärische Kampf gegen die kurdische Unabhängigkeitsbewegung gehören in diesen Kontext.
Laut der türkisch-islamischen Synthese belegen selbst bestimmte Koranverse, dass Allah den Türken bei der Ausbreitung und Verteidigung des Islam eine besondere Rolle zugewiesen haben soll. Dabei lehnt der Islam Stammesdenken und völkischen Dünkel ausdrücklich ab. Als historischer Beweis für eine türkische Sonderstellung gilt den Verfechtern der “Synthese” jedoch das Osmanische Reich und seine jahrhundertelange Herrschaft über den Großteil der Muslime und ihre heiligen Stätten.
Kein türkischer Staatschef hat den Mythos dieser Vergangenheit so bemüht wie Präsident Recep Tayyip Erdogan. Re-Islamisierung nach innen und türkischer Vormachtanspruch nach außen wurden die Markenzeichen seiner Politik. Auch der militärische Gruß türkischer Nationalspieler und Fans bei zwei Fußballpartien in der vergangenen Woche deuteten an, dass dabei viele Türken hinter ihm stehen.
“Wenn Erdogan jetzt wieder für den Erfolg seiner Panzer beten lässt, ist das nichts anderes als die Instrumentalisierung der Religion – türkisch-islamische Synthese in Reinkultur”, meint Mehmet Tanriverdi, Vizevorsitzender der Kurdischen Gemeinde Deutschland, gegenüber der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA).
Die Kurden sind aus seiner Sicht auch deshalb eine leichte Zielscheibe für die Kriegspropaganda in den Moscheen, weil Religion in ihrem Streben nach Unabhängigkeit “überhaupt keine Rolle” spiele. Zwar sind die meisten sunnitische Muslime – wie die Türken selbst -, doch die YPG-Rebellen sind zugleich linksgerichtet. Ihre Fahne trägt den roten Stern. Das macht es Diyanet leichter, die kurdischen Rebellen als atheistische Terroristen zu brandmarken und die eigenen Soldaten als “Dschihad”-Kämpfer und “Märtyrer” zu preisen. Beobachter werfen der YPG-Miliz allerdings auch schwere Menschenrechtsverletzungen vor.
Gleichwohl verstößt die türkische “Operation Friedensquelle” in Nordsyrien gegen das Völkerrecht. Nach UN-Angaben sind bereits 300.000 Menschen auf der Flucht vor den Kämpfen. Die derzeit offizielle Waffenruhe bis Dienstag scheint brüchig zu sein.
In Deutschland stieß der Gebetsaufruf der Diyanet “für unser ruhmreiches Heer” auf Kritik, zumal er offenbar auch in Gemeinden des Ditib-Verbands befolgt wurde. “Mit großem Befremden müssen wir erleben, dass in deutschen Moscheegemeinden Gott für einen Krieg in Anspruch genommen wird”, sagte der Limburger Bischof Georg Bätzing KNA. Er ist in der Deutschen Bischofskonferenz für den interreligiösen Dialog zuständig und äußerte die Sorge, dass der Krieg “die Menschen in Syrien in einen neuen Abgrund von Hass und Gewalt stürzt” und die IS-Terrormiliz wiederbeleben könnte. Ditib beteuert indes, aus Ankara sei keine Anweisung zum Gebet eingegangen.
(KNA - tlkmk-89-00034)