“Jüdisches Leben müsste ohne Polizeischutz möglich sein”. Von Leticia Witte, Bad Nauheim (KNA).
Ilona Klemens ist seit dem 1. Dezember die neue Generalsekretärin des Deutschen Koordinierungsrates der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit (DKR). Im Interview der Katholischen Nachrichten-Agentur (KNA) spricht sie über ihre Aufgaben, die Einbeziehung von Muslimen in den interreligiösen Dialog und den Mut zur Zivilcourage.
KNA: Frau Klemens, Sie sind die erste Frau im Amt des DKR-Generalsekretärs. Hat das eine besondere Bedeutung für Sie?
Klemens: Ja, die erste Frau zu sein in so einem Leitungsamt, hat eine besondere Bedeutung. Noch immer ist das nicht selbstverständlich. Ich bin eine ganz andere Person als mein Vorgänger Rudolf Sirsch und werde diese Rolle anders ausfüllen. Dazu wird gehören, Stimmen von Frauen, auch jüngere, stärker als bisher wahrzunehmen. Der interreligiöse Dialog ist häufig von offizieller Seite stark von Männern bestimmt.
KNA: Mit Ihnen kommt es auch zu einem Generationenwechsel, Sie sind Jahrgang 1965. Welche Akzente können Sie setzen?
Klemens: Es wird darum gehen, die Arbeit des DKR und der einzelnen Gesellschaften so öffentlich zu machen, dass verstärkt auch jüngere Menschen sie wahrnehmen. Das bedeutet, den christlichjüdischen Dialog und den Kampf gegen Antisemitismus stärker in die Sozialen und digitalen Medien zu tragen. Man wird andere Wege der Kommunikation finden müssen, neben den klassischen Formaten.
KNA: Wie könnte das aussehen? Sie waren bislang ja auch in Mainz Studentenpfarrerin…
Klemens: Ich bin selbst in Sozialen Medien unterwegs und denke, dass meine Generation Portale wie Facebook nach wie vor nutzt, junge Leute nutzen andere Medien. Es wird ein Konzept zu entwickeln sein, das verschiedene Zielgruppen verschiedenen Alters anspricht und sich entsprechend vernetzt. Da kann man viel von anderen Organisationen lernen.
KNA: Was sehen Sie als Ihre vordringlichste Aufgabe?
Klemens: Ich versuche erst einmal, mich in die Tätigkeitsfelder und Aufgaben des Koordinierungsrates einzuarbeiten. Dazu gehört, auch die Arbeit und die Engagierten vor Ort kennenzulernen. Ich freue mich besonders auf die nächste “Woche der Brüderlichkeit” im März in Dresden, weil dort Bundeskanzlerin Angela Merkel die Buber-Rosenzweig-Medaille bekommen wird. Das ist ja das Aushängeschild unserer Arbeit, das auch in der Öffentlichkeit besonders wahrgenommen wird.
Aber das, wofür die Medaille steht, ist das eigentlich Wichtige: Bildungsarbeit gegen den Rechtsruck, der in die Mitte der Gesellschaft greift, gegen Antisemitismus und Rassismus. Darüber hinaus die Vermittlung der Erkenntnisse und der Bedeutung des jüdisch-christlichen Dialogs in die Gesellschaft, auch die säkular geprägte. Die Weiterentwicklung der Erinnerungs- und Gedenkkultur. Ich möchte mich auch für eine stärkere Vernetzung mit anderen, trialogisch angelegten Initiativen mit Muslimen einsetzen.
KNA: Wie könnte jüdisches Leben hierzulande gestärkt werden?
Klemens: Es ist wichtig, gemeinsam in der Öffentlichkeit die Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland heute zu zeigen. Wissen über das Judentum zu vermitteln und jüdische Stimmen stärker wahrzunehmen – junge und mehr weibliche Stimmen. Klischees und Vorurteile durch konkrete Begegnungen zu überwinden.
KNA: Was kann man – mit Blick etwa auf die Bedrohung durch den Antisemitismus – noch tun?
Klemens: Jüdisches Leben zu stärken, heißt auch, immer an der Seite von Jüdinnen und Juden in diesem Land zu stehen. Und immer dann die Stimme zu erheben, wenn Antisemitismus wieder laut wird. Sich dafür einzusetzen, dass jüdisches Leben geschützt wird, mit allem, was der Staat und wir als Zivilgesellschaft zur Verfügung haben. Zugleich aber im Blick zu behalten, dass jüdisches Leben eigentlich ohne Polizeischutz möglich sein muss. Ziel sollte sein, dass Jüdinnen und Juden sichtbar und frei und ohne Angst hier leben können. Es ist einfach ein Menschenrecht, das für jede und jeden gilt.
KNA: Nach dem Anschlag von Halle gab es von jüdischer Seite die Forderung nach konkreten Schritten für mehr Sicherheit. Wie könnte man aus Ihrer Sicht auf Polizeischutz verzichten?
Klemens: Es geht ja leider nicht ohne Polizeischutz. Wir dürfen uns aber nicht daran gewöhnen und es normal finden. Ich glaube, dass der Einsatz gegen Antisemitismus in unser aller Verantwortung liegt. Nicht nur in Reden vonseiten der Politik. Vor wenigen Wochen ging ein Video durch die Sozialen Medien, das gezeigt hat, wie in der Londoner U-Bahn eine jüdische Familie angegriffen wurde. Eine junge Muslima stellte sich schützend vor sie. Das hat mich sehr beeindruckt.
Der DKR hat sich folgendes Jahresthema für 2020 gesetzt: “Tu deinen Mund auf für die Anderen”. Es geht darum, dass man antisemitische Bemerkungen nicht einfach stillschweigend erträgt und denkt, man kann eh nichts machen, sondern Unrecht sofort benennt und dagegen angeht. Das ist oft leichter gesagt als getan, daher muss man es einüben. Deswegen ist es gut, wenn zum Beispiel an Schulen dafür gesorgt wird, das zu trainieren. Es gibt viele Organisationen, die Menschen auf solche Situationen vorbereiten.
KNA: Also Zivilcourage üben.
Klemens: Genau. Diese Aufforderung “Tu deinen Mund auf für die Anderen” muss konkret werden im Alltag. Die Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit tragen seit sieben Jahrzehnten dazu bei, weil sie von Anfang an wussten, dass mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs der Antisemitismus nicht verschwinden wird. Jetzt müssen wir erleben, dass man sich wieder mehr traut, antisemitische und rassistische Haltungen laut zu äußern. Was man früher sofort kritisiert hätte, wird langsam zur Normalität. Das darf nicht sein.
KNA: Der Kölner Rabbiner Yechiel Brukner plant nach den Angriffen auf ihn ein Projekt mit Juden und Katholiken, um Zivilcourage zu trainieren.
Klemens: Ich glaube, dass es davon nicht genug geben kann. Alle, die in diesen Bereichen aktiv sind, und jeder Bürger, jede Bürgerin dieses Landes muss das für sich als persönliche Aufgabe begreifen. Nur so wird sich etwas verändern. Jeder kann etwas verbessern, jeden Tag im Alltag.
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