Neues Buch zur Religionskritik in der islamischen Welt
An der islamischen Basis wächst der Widerstand gegen die Starrheit überlieferter Glaubenslehren. Das verspricht ein Buch des Politologen Ralph Ghadban. Doch der Westen stelle lieber Islamisten unter Artenschutz.
Von Christoph Schmidt (KNA)
Bonn (KNA) In der islamischen Welt brodelt es seit dem Arabischen Frühling nicht nur politisch. Auch die Religionskritik erlebt einen starken Aufschwung von der Basis her. Angewidert von den Gräueln im Namen Allahs und sozioökonomischer Perspektivlosigkeit, stellen Muslime den traditionellen Glauben infrage und wenden sich in den Sozialen Netzwerken gegen das orthodoxe Establishment. Sie fordern eine säkulare Ordnung und die Reinigung ihrer Religion von inhumanen Geboten.
In seinem eben erschienenen Buch “Allahs mutige Kritiker: Die unterdrückte Wahrheit über den Islam” gibt der Politologe und Islamwissenschaftler Ralph Ghadban diesen Skeptikern eine Stimme. Die detailreiche Arbeit ist ein über weite Strecken überzeugendes Plädoyer für eine historisch-kritische Grundüberholung islamischer Glaubenslehren.
Das Übel liegt für den 1949 im Libanon geborenen Autor in der Unantastbarkeit der “konstruierten” frühislamischen Überlieferungsgeschichte, deren schriftliche Quellen erst 150 bis 200 Jahre nach Mohammeds Tod einsetzen. Ghadban stellt ihr die oft provokanten Ergebnisse der “revisionistischen Islamwissenschaft” seit den 1970ern entgegen. Demnach begründete Mohammed keine eigene Religion, sondern bezeugte lediglich den Eingottglauben von Juden und Christen unter Ablehnung der christlichen Dreifaltigkeitslehre. Erst die militärische Niederlage gegen Byzanz habe dann unter den frühen Kalifen zur politisch motivierten “Erfindung” des Islam als Herrschaft legitimierende Religion geführt.
Folgt man den “Revisionisten”, erhielt der Koran erst in diesem Kontext seine heutige Form, entstand ein autoritätshöriger Gelehrtenstand und begann die massenhafte Sammlung gefälschter Hadithe, also von Berichten über angebliche Aussagen und Taten Mohammeds. Tausende dieser Hadithe wurden in kanonischen Werken gesammelt und von den Gelehrten des Mehrheitsislam als “Sunna”, Tradition, sakralisiert.
Vorausgegangen war die Unterdrückung der theologischen Schule der Mutaziliten (“die sich Absondernden”) im 9./10. Jahrhundert. Sie vertraten auf der Grundlage griechischer Philosophie die Willensfreiheit und die Erschaffenheit des Koran. Blinde Nachahmung siegte über selbständiges Denken. Statt einer rationalen, sich weiterentwickelnden Theologie erstarrte der Islam im Korsett seiner Rechtsschulen zu einer Gesetzesreligion auf Basis der Sunna. Ghadban beklagt die “Vertreibung der Vernunft” und den geistig-wissenschaftlichen Verfall der islamischen Welt als logische Folge.
Angesichts der westlichen Überlegenheit bewerten islamische Reformer schon seit dem 19. Jahrhundert die religiösen Quellen neu. Dies stößt auf zornige Reaktionen von Salafisten und islamistischen Muslimbrüdern, erlebt aber im Internetzeitalter laut Ghadban einen Aufschwung. Dafür liefert er übersetzte Textpassagen aus Youtube-Videos kritischer Muslime aus dem Nahen Osten, deren Klickzahlen in die Hunderttausende gehen – Ghadban zufolge nur ein Bruchteil der Szene.
Sie verlangen eine Entpolitisierung des Islam, die historisch-kritische Lesart des Koran und die Entschärfung gewaltbejahender Aussagen – kurz: eine humane, tolerante Religion in einem säkularen Staat. Einer, der sich “Bruder Rashid” nennt, bringt seine Abscheu gegen das traditionelle Allah-Bild so auf den Punkt: “Wir haben es hier mit einem Gott zu tun, der sieben Milliarden Menschen erschafft, um 90 Prozent von ihnen zu hassen.”
Im Zentrum der Kritik steht dabei immer wieder die von den Hadithen gestützte Sunna. Denn sie prägte das Regelwerk der Scharia weit mehr als der Koran, viele harsche Vorgaben gehen allein darauf zurück, etwa die Todesstrafe für Apostaten. Ghadban lässt allerdings keinen Zweifel, dass die Reformer angesichts des zähen Widerstands konservativer Institutionen wie der Kairoer Al-Azhar – und Abermillionen frommer Muslime – noch einen weiten Weg vor sich haben.
Das Buch wendet sich an eine westliche Öffentlichkeit, der Ghadban Dummheit und “Provinzialität” vorwirft, weil sie islamistische Verbände hofiert und den Protest gegen den traditionellen Islam als “antimuslimischen Rassismus” ausgrenzt. Er warnt Europäer, “die den Bezug zur eigenen Geschichte und Kultur verloren haben und nicht mehr realisieren, wie sehr sie ihre Freiheit der Religionskritik zu verdanken haben”.
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Ralph Ghadban: Allahs mutige Kritiker: Die unterdrückte Wahrheit über den Islam, 320 S., erschienen im Verlag Herder, Freiburg
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