Die Jahrestagung der Görres-Gesellschaft ist gestern (26. September 2021) zu Ende gegangen. Sie fand seit Freitag (24. September 2021) digital und gleichzeitig mit zentralen Veranstaltungen in Berlin statt und bot nahezu 90 wissenschaftliche Vorträge in 15 parallelen Sektionen, die sich dem Rahmenthema „Toleranz? Herausforderungen und Gefahren“ widmeten.
Beim Festakt in der Katholischen Akademie in Berlin warnte Bundespräsident a. D. Joachim Gauck vor einer Aushöhlung rechtsstaatlicher Prinzipien. „Intoleranz gegenüber den Grundprinzipien unserer freiheitlichen Demokratie kann … nur mit Intoleranz begegnet werden. Wer nur Hass schürt und Straftaten begeht, muss konsequent durch die rechtsstaatlichen Institutionen zur Rechenschaft gezogen werden. Die rechtsstaatliche Toleranzgrenze ist klar definiert oder lässt sich zumindest in einem klar definierten, rechtsstaatlichen Verfahren klären“, so Joachim Gauck in der Festrede. Toleranz sei auch in einer Demokratie keineswegs selbstverständlich und es müsse ihr eine weit größere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Dabei sei Toleranz „immer mit einer kleineren oder größeren Selbstüberwindung verbunden. Sie ist eine zivilisatorische Leistung, die gar nicht hoch genug eingeschätzt werden kann. Toleranz fordert, die Andersartigkeit eines Anderen auszuhalten, obwohl mich seine Meinung, sein Verhalten, sein Lebensstil, unter Umständen ganz einfach seine Existenz irritieren, ärgern oder gar wütend machen – auf jeden Fall: stören. Toleranz ist insofern eine Zumutung. Sie ist – anders, als oft unterstellt – gerade nicht identisch mit Gleichgültigkeit, Desinteresse oder Laissez-faire.“
Bundespräsident a. D. Gauck betonte außerdem, dass Toleranz auch als Respekt und Anerkennung existiere: „Jeder und jede von Ihnen dürfte diese Form der Toleranz kennen: Als Respekt für eine andere Denk- und Lebensart, die in sich konsistent, authentisch und ehrlich ist – aber eben nicht die meine. Entweder bin ich unter anderen Umständen aufgewachsen, so dass mir der Lebensstil des Anderen fremd ist. Oder ich setze andere Prioritäten, habe einen anderen Glauben und gelange daher zu anderen Schlussfolgerungen. Dennoch können mir das Denken und die Haltung des Anderen Respekt und Achtung abnötigen, selbst wenn ich ihm nicht bis ins Detail folge. So funktioniert beispielsweise die christliche Ökumene.“ Joachim Gauck würdigte Toleranz als eine zivilisatorische Leistung, die Menschen wachsen lasse und ein friedliches Zusammenleben ermögliche. Toleranz sei zugleich ein Gebot der politischen Vernunft: „In einem von Toleranz geprägten weiten Debattenraum entwickeln sich Lösungen, die von Mehrheiten getragen werden und auch den Bedenken von Minderheiten und Skeptikern Rechnung tragen. In diesem Raum nähern sich Menschen Wahrheiten, die ihnen Zukunft eröffnen, lernen sie Kompromisse zu schließen – und sie lernen die Toleranz zu ergänzen durch entschlossene Intoleranz, immer dann, wenn Freiheit und Toleranz zerstört werden sollen. Tolerieren und Verteidigen gehören zusammen.“
Im Rahmen dieses Festakts wurde der Ehrenring der Görres-Gesellschaft an Prof. Dr. Heinrich Oberreuter verliehen. Die Laudatio hielt der frühere Präsident des Zentralkomitees der deutschen Katholiken und Staatsminister a. D. Prof. Dr. Hans Maier. Besonders beeindruckt zeigte sich der Präsident der Görres-Gesellschaft, Prof. Dr. Bernd Engler, über das Engagement des dynamisch wachsenden Jungen Forums, das sich in ganz besonderer Weise in die Diskussionen einbrachte. Das Junge Forum dokumentiere, dass die Görres-Gesellschaft den wissenschaftlichen Interessen der nächsten Generation einen weiten Raum gebe, so Prof. Engler. Ihm gehören mittlerweile rund 130 Personen an.
In den wissenschaftlichen Vorträgen der Sektionen wurde das Rahmenthema der Jahrestagung aus den verschiedensten Perspektiven interdisziplinär in den Blick genommen. Bei den Politikwissenschaften kam etwa Dr. Timo Güzelmansur, Geschäftsführer der Christlich-Islamischen Begegnungs- und Dokumentationsstelle der Deutschen Bischofskonferenz (CIBEDO), mit „Überlegungen zum Brückenbau zwischen Islam und Christentum“ zu Wort. In den Vorträgen aus der Sektion der Religionswissenschaften ging es um Möglichkeiten und Grenzen des interreligiösen bzw. interkonfessionellen Dialogs. Die Sektion für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften widmete sich den Fragen einer nachhaltigen Sozial- und Klimapolitik. Und die Rechts- und Staatswissenschaften loteten unter dem Titel „Polarisierung des Politischen“ die „Grenzen des Sagbaren“ aus, die Geschichtswissenschaften die „Grenzen der Toleranz“. Der Leiter des Jerusalemer Instituts der Görres-Gesellschaft, P. Dr. Nikodemus Schnabel OSB, warf einen neuen Blick auf die Christen im Heiligen Land. In drei wissenschaftlichen Veranstaltungen arbeitete die Görres-Gesellschaft mit dem Cusanuswerk zusammen: Neben den Rechts- und Staatswissenschaften sowie den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften ging es in der gemeinsamen Sitzung der Mediziner um das Thema „Der Arztberuf im Wandel?“
Präsident Prof. Engler betonte, dass die Vorträge die gesamte Palette der disziplinären Vielfalt der Görres-Gesellschaft abbildeten: „Das Thema ‚Toleranz? Herausforderungen und Gefahren‘ fordert eine Perspektivenvielfalt, wie sie gerade in unserer Sozietät selbstverständlich ist. Die Fragen, die mit dem Thema angesprochen werden, stellen sich nicht nur in Zeiten gesellschaftlicher Umbrüche oder in besonderen Konfliktkonstellationen. Sie entfalten ihre Brisanz nicht nur in unserer Gesellschaft, sondern in jeder Gesellschaft weltweit – wenngleich mit unterschiedlicher Virulenz und Sprengkraft.“
Hintergrund
Die Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft ist mit rund 2.800 Mitgliedern eine der größten und zugleich eine der ältesten deutschen Wissenschaftsgesellschaften. Vor dem Hintergrund eines christlichen Menschenbildes diskutieren die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler die Ergebnisse aktueller Forschungen an der Schnittstelle von Wissenschaft, Gesellschaft und Politik. Nähere Informationen finden Sie unter: www.goerres-gesellschaft.de.