Liebe Leserinnen und Leser,
„Time to heal“ war der Leitsatz, unter dem die Tagung „G20 Interfaith Forum“ von 12. bis 14. September 2021 in Bologna stattgefunden hat. Der Leitsatz stammt aus dem Buch Kohelet, das eine Perspektive einnimmt, die über die von Covid-19 geplagte Welt hinausgeht. Im dritten Kapitel heißt es: „Alles hat seine Stunde. Für jedes Geschehen unter dem Himmel gibt es eine bestimmte Zeit […] eine Zeit zum Töten / und eine Zeit zum Heilen …“ und meint Heilung von verschiedenen Krankheiten, Plagen, Kriegen und globalen Problemen. In Bologna wurde eine Zeit der Heilung der sozialen und wirtschaftlichen Brüche, die durch die weiterhin anhaltende Pandemie verstärkt wurden, thematisiert. Doch wie gelingt Heilung?
„Wir haben eine Vision vor Augen“, sagte Papst Franziskus auf dem Friedenstreffen der Religionen am 7. Oktober in Rom, „die sich mit derjenigen vieler junger Leute und vieler anderer Menschen guten Willens deckt: die Erde als gemeinsames Haus, das bewohnt wird von Menschen, die sich als Brüder und Schwestern verstehen.“ Es geht darum, dass man Verbündete für das Gute findet, die gemeinsam und Seite an Seite zusammenarbeiten. Dadurch können Menschen aus unterschiedlichen Traditionen, Kulturen und Religionen in einer Gesellschaft zu einem „Wir“ zusammenwachsen. Diversität wird dann nicht als etwas Negatives, sondern angesichts einiger Herausforderungen als etwas Dynamisches und Bereicherndes verstanden. Vor sechzig Jahren kamen Menschen aus unterschiedlichen Ländern nach Deutschland und wurden hier heimisch. Spätestens ab dieser Zeit kann man die „Pluralisierung von Lebensstilen und Weltanschauungen, politischen und religiösen Überzeugungen“ in Deutschland feststellen, wie es im Migrationswort der Kirchen heißt. Ein Umstand, der in den vergangenen Jahrzehnten rasant zugenommen hat. Für ein „Einwanderungsland“, wie Deutschland auch im politischen Kontext bezeichnet wird, gilt es, diese Realität in den verschiedenen Bereichen der Verwaltung, Bildung etc. im Blick zu behalten, damit weder parallele noch „gegen-gesellschaftliche“ Strukturen entstehen. Die Initiative „Tag der offenen Moschee“ setzt hier an und bietet seit 25 Jahren an jedem 3. Oktober die Möglichkeit, die muslimische (Glaubens- und) Lebensrealität kennenzulernen, was von vielen wahrgenommen wird.
Die Realität ist oft vielschichtig! Im vorliegenden Heft beschäftigt sich die Studie von Michael Tunç mit verschiedenen Männlichkeitsvorstellungen von Muslimen und deren Kritik in Praxis und Forschung. Der Autor zeigt die Komplexität von Geschlechterfragen auf und bedenkt, welche Rolle praktische Männerarbeit in einem emanzipatorischen Prozess spielen kann. Thomas Lemmen lenkt den Blick auf das Doppelgebot der Liebe und welche Rolle dieses im christlich-islamischen Dialog einnehmen kann. Ausgehend von der christlichen Perspektive identifiziert er Aspekte aus dem islamischen Kontext, die komplementär betrachtet werden können. René Buchholz schildert die verschiedenen Narrative um Abraham als Bezugsfigur in Judentum, Christentum und Islam und nimmt eine kritische Einordnung zum Begriff der „Abrahamitischen Religionen“ vor.
Am Ende des Jahres 2021 scheint angesichts der pandemischen Lage weiterhin „Abstand halten, um sich und andere zu schützen“ das Gebot der Stunde zu sein. Möge das kommende Jahr „eine Zeit zum Heilen“ werden. Wir wünschen allen Feiernden ein gesegnetes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch ins neue Jahr 2022!
Viel Freude bei der Lektüre dieses Heftes
Ihr Timo Güzelmansur
Inhalt
Studien
Wettstreit der Narrative. Zum Begriff der „Abrahamitischen Religionen“
René Buchholz
Das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe als Grundlage des christlich-islamischen Dialogs
Thomas Lemmen
Männlichkeitskritik, Islam und Transformationen in Forschung und Praxis
Michael Tunç
Dokumentation
Geschwisterlichkeit unter den Völkern. Zukunft der Erde.
Ansprache von Papst Franziskus auf dem Friedenstreffen der Religionen
Rom, 7. Oktober 2021
Migration menschenwürdig gestalten
Gemeinsames Wort der DBK und des Rates der EKD in Zusammenarbeit mit der ACK
21. Oktober 2021
Berichte
Junge MuslimInnen in der Jugendarbeit. Qualifizierungstagung in Stuttgart, 11.–12. September 2021
Linda Huber
Über das Schweigen als den fruchtbaren Zwischenraum des Dialogs. Hermann Stieglecker-Gedächtnistagung im Stift St. Florian, 19.–21. September 2021
Brigitte M. Proksch
Wie hältst du es mit der Schrift? Christlich-theologische Zugänge zum Koran. Tagungsbericht zur CIBEDO-Werkstatt in Frankfurt a. M., 29.–30. Oktober 2021
Carolin Brusky und Robin Flack
Buchbesprechungen
Kaddor, Lamya (Hg.): Muslimisch und liberal! Was einen zeitgemäßen Islam ausmacht
Sebastian Prinz
Ruhland, Heike: Peacebuilding in Pakistan. A Study on the Religious Minorities and Initiatives for Interfaith Harmony
Dirk Ansorge
Stieglecker, Hermann: Die Glaubenslehren des Islam. Neuedition der Auflage von 1983. Mit Einleitungen von Petrus Bsteh, Mouhanad Khorchide und Rüdiger Lohlker. Überarbeitung durch Philipp Buckmayr
Peter Antes
Literaturhinweise
Zeitschriftenschau