Ein Wechselspiel von Offenheit, Nähe und Konkurrenz
Ein Minarett im Hafen von Palma de Mallorca oder eine christliche Kirche im afghanischen Herat? Heute völlig unvorstellbar, im Mittelalter aber möglich. Die Historikerin Weltecke erklärt warum.
Von Christiane Laudage (KNA)
Bonn (KNA) Heute sind es “Fahrpläne, der Takt der Wirtschaft oder die Aufsicht durch die Polizei, die Leben regeln und Verfehlungen sanktionieren”, sagt die Berliner Mittelalterhistorikerin Dorothea Weltecke. Im Mittelalter waren es jüdische, christliche und islamische Gemeinschaften, die mit ihren religiösen Praktiken das Leben der Menschen gestalteten. Sie waren dabei durchaus offen für das, was die jeweils anderen machten und sei es nur deswegen, um sich abzugrenzen.
Judentum, Christentum und Islam wurden erst gegen Ende des Mittelalters zu Religionen im Sinne einer “exklusiven sozialen Formation mit einem geschlossenen Lehrgebäude”, sagt Weltecke in ihrem jetzt veröffentlichten Buch “Die drei Ringe. Warum die Religionen erst im Mittelalter entstanden sind”. Eine These, die zunächst überrascht, für die aber die Historikerin gute Gründe anführt.
Sie zeichnet nach, wie die Weichen für die allmähliche Entstehung der modernen Religionen gestellt wurden, nämlich durch die zunehmende Feindseligkeiten und gegenseitiger Abgrenzungen. Doch bis es dazu kam, zeichneten sich das Miteinander durch ein ständiges Wechselspiel von Offenheit, Nähe und Konkurrenz aus, wie die Historikerin Weltecke an Beispielen zeigt. In ihren Forschungen hat sie herausgefunden, dass auf regionaler Ebene kulturelle und soziale Gemeinsamkeiten über die Grenzen der religiösen Gemeinschaften hinaus bestanden, ob es nun die Sprache, gemeinsame Feste oder die Leidenschaft für eine Süßspeise waren.
Die drei Religionen hatten einander sehr genau im Blick und was sie bei den anderen sahen, hatte wiederum Rückwirkung auf die eigene Religion. “Ihre gemeinsamen Wissenskulturen führten zu einer Verflechtung auch der Glaubenstraditionen, die gleichzeitig durch Rivalität angetrieben und mit dem Anspruch der Autonomie geleugnet wurde.” Kurzum, so fasst die Historikerin das zusammen: “Man fand, dass die anderen es falsch machten, aber was sie taten, konnte man unmittelbar richtig deuten.”
In den rund 1.000 Jahren des Mittelalters überschrieben diese drei Religionsgemeinschaften die antike Kultur und schufen etwas Neues. Das betraf einen großen geografischen Raum – vom Atlantik bis zum Indischen Ozean und von den Britischen Inseln bis zum Pandschab.
Es waren Männer, die Religion machten, so Weltecke. Denn: “Männer waren die Richter, die Lehrer und die Gelehrten, und sie schlossen die Frauen von der dafür erforderlichen formalen Ausbildung fast vollständig aus.” Der Grund liege darin, dass jüdische, christliche und islamische Kulturen nach Angaben der Historikerin großen Wert auf eine Differenzierung zwischen weiblichen und männlichen Lebensweisen legten. “Dabei wurden Frauen rechtlich und sozial untergeordnet, und diese Ungleichheit wurde theologisch immer wieder begründet.”
Wo sich die drei Religionsgemeinschaften immer wieder trafen, das war an Pilgerorten. “Das Pilgern gehörte zu den Aspekten des Lebens, die die Juden, Christen und Muslime zudem mit zeitgenössischen Kulten in Asien und Afrika teilten”, erklärt Weltecke. Da wäre die gemeinsame Jerusalem Frömmigkeit zu nennen. Sie ist ein “ein zentrales Beispiel für die theologische Verflechtung der drei Traditionen. Die Verehrung dieser kleinen Stadt war nie unumstritten, blieb aber eine gemeinsame Praxis”, so die Historikerin.
Judentum, Christentum und Islam drifteten trotz eines intensiven Austauschs auseinander, stellt die Historikerin fest. Gegen Ende des Mittelalters kam es nach den Erkenntnissen von Weltecke zu einer Krise im Zusammenleben. Trotz aller Vernetzung und Austausch nahmen Abgrenzung und Gewalt zu, wovon die jüdische Gemeinschaft besonders betroffen war. So ging das Gemeinsame verloren; stattdessen gab es Konkurrenz, die zur Ausformung von Religionen mit einem festen Lehrgebäude führten.
Mit Bedauern schließt Weltecke ihre Darstellung, dass Juden, Christen und Muslime Geschwister hätten sein können, doch ihre Geschichte habe dies verhindert. Das Ende des Mittelalters und der Beginn der Neuzeit bedeutete das Aus für die Juden und Muslime in Westeuropa und die großen mittelalterlichen Kirchen in Asien, erklärt Weltecke. Die frühere gemeinsame Geschichte wurde so gründlich überschrieben,
dass man sich weder Minarette im Hafen von Palma de Mallorca noch Kirchen im Zentrum von Herat überhaupt vorstellen kann”.
Service Dorothea Weltecke, Die drei Ringe. Warum die Religionen erst im Mittelalter entstanden sind, (Historische Bibliothek der Gerda Henkel Stiftung), C.H. Beck Verlag, München 2024, 608 S., mit 28 Abbildungen und 4 Karten, 38 Euro.
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