Liebe Leserinnen und Leser,
vor 60 Jahren stellte die katholische Kirche ihre Haltung zu anderen Religionen und religiösen Traditionen durch die Konzilserklärung Nostra aetate auf eine neue Grundlage. Ausdruck dieser Neuausrichtung ist unter anderem die Aussage: „Wir können aber Gott, den Vater aller, nicht anrufen, wenn wir irgendwelchen Menschen, die ja nach dem Ebenbild Gottes geschaffen sind, die brüderliche [geschwisterliche] Haltung verweigern.“ (NA 5). Aus dieser Wende sind neue theologische Ansätze und zahlreiche Dialoginitiativen hervorgegangen, die in diesem Jubiläumsjahr weltweit gewürdigt wurden – einige davon dokumentieren wir in diesem Heft.
Ein zentraler Gedanke vieler dieser Veranstaltungen ist das Ringen um Frieden. Damit richtet sich der Blick unweigerlich auf den Nahen Osten, wo die Lage weiterhin angespannt bleibt, auch wenn wiederholte Verhandlungen über eine Waffenruhe zumindest kurze Momente des Aufatmens ermöglichen. Die humanitäre Situation im Gazastreifen ist dramatisch, das Leid unvorstellbar, die Traumatisierungen tief. Gerade in solchen Zeiten ist es entscheidend, dass Verantwortungsträger deeskalierend handeln und weder sprachlich noch politisch weiter polarisieren.
Anlässlich des zweiten Jahrestags des verheerenden Terrorangriffs der Hamas auf Israel haben sowohl
die Deutsche Bischofskonferenz als auch die Evangelische Kirche in Deutschland klare Erklärungen abgegeben, die zum Ende der Gewalt und zur Rückkehr auf diplomatische Wege aufrufen. Beide Kirchen betonen, dass Frieden nicht durch militärische Lösungen entsteht, sondern durch ernsthafte Bemühungen um Verständigung, Gerechtigkeit und den Schutz der Zivilbevölkerung auf allen Seiten.
Von ganz anderer Art war Ende August ein Aufruf aus Istanbul. Darin wird mit religiöser Rhetorik zu einem
„Dschihad“ und zur Pflicht aufgerufen, die „Geschwister“ in Gaza politisch, moralisch und materiell zu unterstützen. Solche Formulierungen tragen nicht zur Beruhigung der Lage bei; sie wirken vielmehr als Verstärker bestehender Feindbilder und verschärfen die ohnehin fragile Situation. Wir dokumentieren diesen Aufruf in dieser Ausgabe, versehen mit einer differenzierten und sachlich einordnenden Analyse von Rainer Hermann, die den politischen, religiösen und gesellschaftlichen Kontext in der Türkei und darüber hinaus sichtbar macht.
International bleibt der Blick bei den Beiträgen von Chris Hewer und Paul Heck. Hewer nahm 2024 an der schiitischen arbaʿīn-Pilgerreise im Irak teil, einer der größten religiösen Versammlungen weltweit. Seine Reflexion zeigt, wie stark spirituelle Erfahrungen eine Brücke zwischen Menschen unterschiedlichster Herkunft bauen können, wenn sie als Raum geteilter menschlicher Werte verstanden werden. Hewer beschreibt eindrücklich, wie Gemeinschaft, Solidarität und Hilfsbereitschaft ein Narrativ eröffnen, das über konfessionelle Grenzen hinausweist.
In eine andere Richtung führt der Beitrag von Paul Heck. Er thematisiert den Umgang arabischer Universitäten mit dem Studium nicht-islamischer Religionen und zeigt auf, wie selten ein echtes Hineinversetzen gelingt. Heck plädiert für eine curriculare Öffnung, die den religiösen Pluralismus als Ressource begreift und nicht als Bedrohung. Erst ein solcher Ansatz erlaubt es, auf Dauer tragfähige Grundlagen für friedliches Zusammenleben in pluralen Gesellschaften zu entwickeln. Unser Anliegen ist es, diese unterschiedlichen Stimmen nebeneinander hörbar zu machen, gerade jetzt. Denn nur, wenn wir uns der Vielschichtigkeit der religiösen und politischen Dynamiken stellen, können Dialog, Verständigung
und Versöhnung glaubwürdig bleiben. In diesem Sinne wünschen wir allen Feiernden gesegnete Weihnachten und einen guten Start in das neue Jahr 2026.
Viel Freude bei der Lektüre des Heftes!
Ihr Timo Güzelmansur
Inhalt
Studien
Pluralismus auf der Suche nach einem neuen Lehrplan. Das Studium der Religionen an arabischen Universitäten
Paul Heck
Wie würde die Welt aussehen, wenn sie von den Werten der Gerechtigkeit, Gleichheit und des Friedens geleitet würde?
Eine Reflexion über die arbaʿīn-Pilgerreise
Chris Hewer
Ein Aufruf zum Dschihad gegen Israel
Rainer Hermann
Dokumentation
Eine islamische und humanitäre Verantwortung: Gaza. Abschlusserklärung von 150 islamischen Gelehrten
Istanbul, 29. August 2025
Die Gewalt muss sofort enden! Friede für Israel und Palästina! Erklärung der deutschen Bischöfe zum Gazakrieg
Fulda, 25. September 2025
„Dieses Verbrechen hat tiefe Wunden hinterlassen“.
Äußerung der Ratsvorsitzenden der EKD und der Leitenden Geistlichen aller 20 Landeskirchen
Hannover, 3. Oktober 2025
Gemeinsam in der Hoffnung voranschreiten.
Ansprache von Papst Leo XIV. zum 60. Jahrestag von Nostra aetate
Rom 28. Oktober 2025
Gebet für den Frieden. Ansprache von Papst Leo XIV. beim Gebetstreffen für den Frieden
Rom 28. Oktober 2025
Berichte
European Summer School on Interreligious Studies and Peacebuilding,
Sarajevo (BiH), 10.–18. September 2025
Frank van der Velden
The Role of Islam and Christianity in Public Space. Perspectives from Indonesia and Germany“,
Münster, 26.–28. September 2025
Stefanie Burkhardt
Interreligiöse Beziehungen im europäischen Kontext. Interreligiöse Studienwoche,
Lindenberg, 28. September – 3. Oktober 2025
Fabienne Ringwald und Seyfullah Özdemir
60 Jahre Nostra aetate und Ad gentes. Universalismus als Herausforderung für
Mission und interreligiösen Dialog,
Frankfurt a.M., 24.–25. Oktober 2025
Robin Flack
Buchbesprechungen
Klapp, Marcel: Muslimische Selbstverortung in Deutschland.
Eine Ethnographie islamischer Bildung zwischen Salafismus und zivilem Islam
Sebastian Prinz
Spieker, Marie: Die Angst der Tiere. Eine interreligiöse Erkundigung in hermeneutischer Absicht
Ralf Lange-Sonntag
Ströbele, Christian/Karakaya, Erdoǧan/ Omerika, Armina/Zemmrich, Eckhard (Hg.):
Rechtspopulismus und Religion. Herausforderungen für Christentum und Islam
Ramazan Özgü
Literaturhinweise
Zeitschriftenschau




