Liebe Leserinnen und Leser,
seit über einem Jahr wütet die unheilvolle Corona-Pandemie weltweit. Die Aussicht, in naher Zukunft Familienangehörige, Freunde, Arbeitskollegen etc. treffen zu können, macht Hoffnung, weiter durchzuhalten. Hoffnung ist das Prinzip, an das wir uns klammern.
Hoffnung war auch eines der Leitmotive, die Papst Franziskus zu seiner 33. Auslandsreise bewegten. Er besuchte vom 5. bis 8. März den Irak, ein Land, das in den letzten Jahren von Kriegen, ethnischen und religiösen Verfolgungen, konfessionellen Rivalitäten und Feindschaften geprägt ist. Die Bevölkerung mit einer sehr hohen Arbeitslosigkeit sehnt sich nach Frieden und besseren Zeiten. Die Jugend fühlt sich perspektivlos und vom Rest der Welt abgehängt. Die politische Elite scheint auf eigene Vorteile bedacht und ohne Blick für die Zukunft der Bevölkerung. Eine Lage zum Verzweifeln! Eine Begegnung, die Hoffnung spendet, vermittelt Trost, Solidarität und damit auch einen ersten Schritt zur Heilung. Die Worte und Gesten des Papstes, der für die Menschen im Irak da sein möchte und als reuiger Pilger auftrat, der Gott um Vergebung und Versöhnung bittet, vermittelten all dies. Gerade jetzt ermutigte er die Menschen unterschiedlicher ethnischer und religiöser Herkunft, einander nicht als Feinde, sondern als Schwestern und Brüder zu sehen. Der päpstliche Einsatz für Frieden und Versöhnung fand einen Unterstützer im hochgeachteten schiitischen Großayatollah ʿAlī as-Sīstānī, der für seine gemäßigte und quietistische Haltung bekannt ist und für die religiöse und ethnische Vielfalt im Irak eintritt.
Es gibt drei zentrale Bereiche, für die die Reise des Papstes auf Dauer Verbesserung bewirken könnte: Die politischen Akteure könnten sich zusammenraufen, um die Geschicke des Landes in die richtige Richtung zu lenken, damit es eine lebbare Heimat für alle wird. Die gesellschaftliche Pluralität und damit verbunden der Bereich des Interreligiösen Dialogs hat einen entscheidenden Impuls bekommen, mit dem die Beziehungen gestärkt werden könnten. Sicherlich wird der katholisch-schiitische bzw. christlich-islamische Dialog auf internationaler Ebene diese Zeichen würdigen. Ein Rückbesuch schiitischer Geistlicher aus dem Irak wurde bereits von Jawad al-Khoei angekündigt. Schließlich sollen die Christen der unterschiedlichen Konfessionen ermutigt werden, trotz der schrecklichen Ereignisse im Land zu bleiben und sich aktiv am Aufbau ihrer Heimat zu beteiligen. Denn die christliche Präsenz im Land hat auch Signalwirkung für Jesiden und Muslime im und außerhalb des Irak. Der Appell des Papstes, sich als Geschwister zu betrachten, könnte zu einem Schlüsselaspekt für die Zukunft des Landes werden, einen Staat aufzubauen, in dem nicht das Trennende, sondern das Verbindende im Mittelpunkt steht.
Dass religiös begründete Überlegenheitsansprüche über andere Gruppen nicht zu einem friedlichen Zusammenleben beitragen können, wird in dieser Ausgabe durch den Text von Markus Dreßler anhand der Rekonversion der Hagia Sophia zu einer Moschee thematisiert und in die innertürkischen Debatten eingeordnet. Der Beitrag von Ansgar Hense greift die Kontroversen und die neuesten juristischen Entwicklungen um die rechtlichen Fragen des islamischen Gebetsrufs in Deutschland auf, daher auch der aktualisierte Wiederabdruck des Abschnitts über den „Muezzinruf “ aus der Arbeitshilfe Nr. 172 der Deutschen Bischofskonferenz. Ob und wie sich das klassische muslimische Familienrecht im säkularen Deutschland wandelt, wird in der Studie von Debora Müller und Mouez Khalfaoui behandelt.
Ich wünsche Ihnen viel Freude bei der Lektüre und bleiben Sie gesund!
Ihr Timo Güzelmansur
Inhalt
Studien
Religiöse Symbolik, nationalistische Rhetorik und neoimperiale Visionen. Zur Inszenierung der Rekonversion der Hagia Sophia im Juli 2020
Markus Dreßler
Aktuelles muslimisches Verständnis des klassischen Familienrechts in einem modernen säkularen Kontext. Deutschland als Fallstudie
Mouez Khalfaoui, Debora Müller
Der islamische Gebetsruf. Einige religionsverfassungsrechtliche und immissionsschutzrechtliche Anmerkungen
Ansgar Hense
Dokumentation
Muezzinruf
Arbeitshilfe der Deutschen Bischofskonferenz Nr. 172 (2003) mit ergänzenden Fußnoten
Charta der Prinzipien für den Islam in Frankreich
Paris, 17. Januar 2021
Internationaler Tag der Geschwisterlichkeit aller Menschen
Resolution der UN-Generalversammlung,
21. Dezember 2020
Die Religionen haben die Pflicht, zu Frieden und Gerechtigkeit beizutragen
Erklärung von Bischof Meier anlässlich des ersten Internationalen Tages der Geschwisterlichkeit aller Menschen,
3. Februar 2021
Videobotschaft von Papst Franziskus zum ersten Internationalen Tag der Geschwisterlichkeit aller Menschen
Vatikanstadt, 4. Februar 2021
Botschaft von Großimam Ahmad al-Tayyeb zum ersten Internationalen Tag der Geschwisterlichkeit aller Menschen
Kairo, 4. Februar 2021
Berichte
Integrationspotenzial der monotheistischen Religionen für das heutige Europa. Online-Workshop der Stiftung Kreisau für Europäische Verständigung, 25./26.11.2020
Urszula Pękala
Themenwoche „Christentum im Nahen Osten“ an der Goethe-Universität Frankfurt, 18.–21.01.2021
Lia Alessandro und Frederike Schönecker
DialogverNETZt – Interreligiöser Dialog online. Wie man trotz Reisebeschränkungen, Ausgangssperre und social distancing das Gespräch zwischen den Religionen bereichern kann und neue Wege findet
Alexandra Morath
Buchbesprechungen
Driessen, Michael Daniel u. a.: Interreligious Dialogue Mapping of the Middle East. Lebanon, Jordan, Turkey and Iraq
Tobias Specker SJ
Ostwaldt, Jens: Islamische und migrantische Vereine in der Extremismusprävention. Erfahrungen, Herausforderungen und Perspektiven
Sebastian Prinz
Literaturhinweise
Zeitschriftenschau