Liebe Leserinnen und Leser,
“schaut hin” war das aus dem Markusevangelium Kapitel 6 Vers 38 entnommene Motto des dritten Ökumenischen Kirchentags, der aufgrund der anhaltenden Pandemie dezentral vom 13.–16. Mai in Frankfurt am Main stattgefunden hat. Ein Großereignis, das unter gewöhnlichen Umständen tausende von Menschen in unterschiedlichen Formaten und Veranstaltungen zusammenbringt, um zu beten, feiern, diskutieren, erleben und sich zu begegnen.
Die Muslime begangen beinahe zeitgleich mit dem ÖKT ab dem 12. Mai das Fest des Fastenbrechens (ʿĪd al-Fiṭr) zum Ende des Monats Ramadan. Wie davor das jüdische Pessachfest und das christliche Ostern war die muslimische Fastenzeit von den einschränkenden Versammlungs-, Abstands- und Hygieneregelungen betroffen. Kreativität war angesagt, sowohl beim ÖKT als auch bei den religiösen Feierlichkeiten, und auf digitalem Wege wurden Räume eingerichtet, damit doch eine Art der Begegnung stattfinden kann, dann sogar über Ländergrenzen hinweg.
Doch auf die an sich fröhlichen Ereignisse wie der ÖKT oder das ʿĪd al-Fiṭr warfen ab dem 10. Mai die Bilder und Berichte über eine erneute Gewalteskalation im Heiligen Land einen traurigen Schatten. In den sozialen Medien wurde eifrig über die Hintergründe der Gewalt von beiden Seiten spekuliert. Es verging nicht viel Zeit und der Konflikt war nach Deutschland geschwappt und es zogen Menschen mit antijüdischen Parolen durch die Straßen und versammelten sich vor den Synagogen, wie in Gelsenkirchen, sodass die Sicherheitskräfte eingreifen mussten. Gerade in solchen Krisenzeiten wünscht man sich, dass religiöse Autoritäten besonnen reagieren und mäßigend wirken. Ich bin froh, dass auch die Mehrheit der muslimischen Organisationen und viele muslimische Personen ihre Solidarität mit den jüdischen Gläubigen und Gemeinden erklärt haben. Im Zusammenhang mit der Gewalt gegen die zivile Bevölkerung aufgrund des Konflikts im Heiligen Land und den Ereignissen sprach Dr. Azza Karam, die Generalsekretärin von Religions for Peace, von „failed leadership“. Diese Beschreibung trifft auch auf all diejenigen politischen und religiösen Vertreter zu, die antijüdische Verschwörungen verbreiten, um bei den eigenen Anhängern zu punkten. Es gilt für alle, genauer „hinzuschauen“.
„Schaut hin“: Am 27. Mai wurde der Grundstein für den Mehrreligionen-Bau in Berlin gelegt. Das „House of One“ wird als ein gemeinsames Gotteshaus gebaut, in dem Juden, Christen und Muslime in getrennten Räumen nach ihrer Tradition beten können, sich aber auch in einem zentralen Raum der Begegnung austauschen und voneinander lernen können. Möge dieses Projekt zu mehr Verständigung in unserem Land und weltweit beitragen!
Ein friedliches Miteinander kann heute und in Zukunft nur dauerhaft gewährleistet werden, wenn sich Menschen aus unterschiedlichen religiösen und kulturellen Traditionen als Partner und nicht als Gegner begreifen. Papst Franziskus sagte in Ur/Irak: „Es wird keinen Frieden geben ohne Teilen und Aufnahme, ohne eine Gerechtigkeit, welche die Gleichheit und Förderung aller, angefangen bei den Schwächsten, gewährleistet. Es wird keinen Frieden geben ohne Völker, die anderen Völkern die Hand reichen.“ Das ist genau auch ein Anliegen der päpstlichen Enzyklika Fratelli tutti, die in dieser Ausgabe sowohl christlich von Michael Schober als auch muslimisch von Tuncay Dinçkal reflektiert wird. Verschiedene neue Ansätze islamischer Theologie, mit dem Christentum und der religiösen Vielfalt umzugehen, werden von Andreas Renz hervorgehoben, den ersten Teil seiner zweiteiligen Studie finden Sie ebenfalls in dieser Ausgabe.
„Schaut hin“ und viel Freude bei der Lektüre dieses Heftes!
Ihr Timo Güzelmansur
Inhalt
Studien
Die „Familie der Schrift“ – Neuere Ansätze einer islamischen Theologie des Christentums,Teil I
Andreas Renz
Geschwisterlichkeit in der einen Menschheitsfamilie – Religionspädagogische Studie zu Fratelli tutti aus christlicher Sicht
Michael Schober
Ein Aufruf, den alle in ihrem Herzen verspüren sollten! Die Enzyklika Fratelli tutti – Ein Kommentar aus muslimischer Perspektive
Tuncay Dinçkal
Dokumentation
Interreligiöse Begegnung, Ansprache von Papst Franziskus und Gebet der Kinder Abrahams
Ebene von Ur, 6. März 2021
Grußwort von Papst Franziskus und Gebet für die Kriegsopfer
Mossul, 7. März 2021
Botschaft des Päpstlichen Rates für den Interreligiösen Dialog zum Monat Ramadan und ʿĪd al-Fiṭr 1442 H/2021 A.D.
Vatikanstadt, 29. März 2021
Grußbotschaft des Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz zum muslimischen Fastenmonat Ramadan
Bonn, 12. April 2021
Grußwort zum Fastenmonat Ramadan des Ratsvorsitzenden der EKD
Hannover, 12. April 2021
Grußbotschaft des Bundespräsidenten zum Fest des Fastenbrechens
Berlin, 12. Mai 2021
Weltkirche und Weltgesellschaft den Spiegel vorgehalten. Ein Nachruf auf Hans Küng (1928–2021)
Karl-Josef Kuschel
Berichte
Verflechtungen. Theologisches Forum Christentum – Islam (online). Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart, 5.–6. März 2021
Carolin Brusky
Die Katholische Kirche und der Dialog mit MuslimInnen. Online-Vortragsreihe vom Bund Deutscher Dialog Institutionen e. V. (BDDI e.V.)
Büşra Çebi und Iclal Baki
Im Anfang war der Dialog. Geschichtliche Hintergründe und Ansätze interreligiöser Arbeit in der Caritasarbeit im Rhein-Kreis Neuss
Dorota Magdalena Hegerath
Buchbesprechungen
Espelage, Christian/Mohagheghi, Hamideh/Schober, Michael (Hg.): Interreligiöse Öffnung durch Begegnung. Grundlagen – Erfahrungen – Perspektiven im Kontext des christlich-islamischen Dialogs
Manfred Riegger
Khorchide, Mouhanad: Gottes falsche Anwälte. Verrat am Islam
Musa Bağraç
Troll, Christian W./Ramsey, Charles M./Mughal, Mahboob Basharat: The Gospel According to Sayyid Ahmad Khan (1817–1898). An Annotated Translation of Tabyīn al-kalām (Part 3)
Jamal Malik
Literaturhinweise
Zeitschriftenschau