Liebe Leserinnen und Leser,
Das muslimische Leben hat sich in den letzten Jahrzenten in Deutschland etabliert und verfügt über entsprechende Organisationen. Der Verband der Islamischen Kulturzentren feiert in diesem Jahr sein 50-jähriges und die Ahmadiyya Muslim Jamaat ihr 100-jähriges Jubiläum der Gründung in Deutschland. Letztere ist sogar in Hessen als Körperschaft des öffentlichen Rechts (KdöR) anerkannt. Diese Realität wird von Teilen der Mehrheitsgesellschaft infrage gestellt, sodass in den letzten Wochen dutzende muslimische Einrichtungen und Moscheegemeinden Drohbriefe erhalten haben, die die Unterschrift „NSU 2.0“ tragen. Dass die Sicherheitsbehörden gegen die Verfasser solcher geschmackloser Schreiben ermitteln und diese juristisch verfolgen, ist nur richtig. Dass in Deutschland in etlichen Bereichen „Muslim- und Islamfeindlichkeit“ eine tägliche Herausforderung ist, bestätigt der Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Muslimfeindlichkeit. Die Studie zeigt anhand von Fallbeispielen, Betroffenenperspektiven, Gutachten etc., wie diese in unterschiedlichsten Bereichen sichtbar wird. Es lohnt sich, den Bericht genauer zu studieren und sich klarzumachen, dass jede und jeder von uns etwas dagegen unternehmen kann. Als Ziel ist zu definieren, dass in unserer Gesellschafft niemand mehr ausgeschlossen wird.
Der „3. ökumenische Bericht zur Religionsfreiheit weltweit“ enthält in diesem Jahr einen Länderbericht über Deutschland. Dankenswerter weise schenken die Kirchen der Religions- und Weltanschauungsfreiheit besondere Aufmerksamkeit und betrachten dies im größeren Kontext der allgemeinen Menschenrechte. Obwohl Deutschland im hohen Maße die Religionsfreiheit schützt, zeigen sich in der Praxis gleichwohl Paritäts- und Gleichbehandlungsprobleme im Hinblick auf den Islam. Wir dokumentieren in dieser Ausgabe Teile des Berichts.
Mir scheint, dass das von Papst Franziskus für seine Pastoralreise in die Mongolei gewählte Motto „Hoping together“ für unseren Kontext übertragbar ist. Denn er hob bei einer interreligiösen Begegnung insbesondere das Wort Harmonie hervor und meinte damit „jene besondere Beziehung, die sich zwischen verschiedenen Wirklichkeiten entwickelt, diese aber nicht überlagert und vereinheitlicht, sondern die Unterschiede achtet und dem Zusammenleben nützt.“ So fragte er auch: „Wer ist mehr als die Gläubigen dazu berufen, sich für die Harmonie zwischen allen einzusetzen?“ Es wäre lohnend, auch interreligiös über diese Frage nachzudenken.
Denn interreligiös unterwegs zu sein, führt jede und jeden selbst zu den existenziell religiösen Fragen und zum Grund des eigenen Glaubens. Der Dominikaner Emmanuel Pisani zeigt die verschiedenen Ausdrucksformen des Zusammenseins vor Gott am Beispiel von Christian de Chergé, der in Algerien unter Muslimen lebte und dort das Martyrium erlitt. Die Franziskanerin Margareta Gruber nähert sich der Thematik unter besonderer Berücksichtigung von Chiara Lubich und erläutert die spirituelle Metapher „Jesus für Jesus verlassen“. Beide Studien basieren auf Beiträgen, die auf der CIBEDO-Werkstatt im letzten Jahr gehalten wurden. Ergänzt werden die Studien durch eine Arbeit von Christoph Kruck, der verschiedene mystische Wege in Christentum und Islam vergleicht und nach dialogfördernden Haltungen fragt. Ein Heft, das sich der spirituellen Erfahrung widmet. Dazu passt auch, dass die Gemeinschafft Sant’Egidio eine internationale und interreligiöse Konferenz (10.–12. September 2023) in Berlin unter dem Motto: „Den Frieden wagen“ ausrichtete. Es lohnt sich, sich für Frieden einzusetzen, damit ein harmonisches Leben in einer pluralen Gesellschafft möglich ist.
In diesem Sinne viel Freude bei der Lektüre dieses Heftes
Ihr Timo Güzelmansur
INHALT
Studien
Ausdrucksformen des Zusammenseins vor Gott. Das Beispiel von Christian de Chergé
Emmanuel Pisani OP
Jesus für Jesus verlassen?
Zu einer spirituellen Metapher des interreligiösen Denkens im Anschluss an Chiara Lubich,
Christian de Chergé und Adnane Mokrani
Margareta Gruber
Ein ausgewählter Vergleich von christlicher und islamischer Mystik mithilfe von Annemarie Schimmel.
Phänomenologische Untersuchungen mit Blick auf den interreligiösen Dialog
Christoph Kruck
Dokumentation
Ansprache von Papst Franziskus zum „Welttreffen zur Geschwisterlichkeit unter den Menschen“
Vatikanstadt, 10. Juni 2023
Grußbotschaft des Vorsitzenden der DBK zum Muharrem-Fasten und Aşure-Fest 2023
Bonn, 18. Juli 2023
3. Ökumenischer Bericht zur Religionsfreiheit weltweit 2023.
Länderbericht Deutschland und Auszüge aus dem Gemeinsamen Schlusswort
Bonn/Hannover, Juli 2023
Berichte
Herausforderung Frieden: Anfragen an Christentum und Islam.
Jahrestagung des Theologischen Forums Christentum und Islam,
Stuttgart, 17.–19. März 2023
Josefine Wahle
Interreligiöse Hermeneutik in einer pluralen Gesellschaft – Begründungen, Herausforderungen, Chancen und Grenzen.
Online-Vortragsreihe am Institut für Islamisch-Theologische Studien der
Universität Wien, 7. März – 27. Juni 2023
Şenol Yağdı und İbrahim Koçyiğit
Verlorenes Paradies? Umweltethik im Kontext der Islamischen Theologie.
Ringvorlesung am PIIT und ZIT,
Paderborn und Münster, 26. April – 5. Juli 2023
Martin Skowronek
Buchbesprechungen
Hamdan, Hussein:
Als Islamberater unterwegs durch Baden-Württemberg.
Erfahrungen – Herausforderungen – Orientierungen
Florian Jäckel
Konrad, Alexander:
Umdeutungen des Islams. Bundesdeutsche Wahrnehmungen von Muslim*innen 1970–2000
Sebastian Prinz