Vor zehn Jahren wurde das jüdische Studienwerk ELES gegründet. “Durch Vielfalt verliert niemand”. Von Nina Schmedding, Berlin (KNA).
Lehren und Lernen, innerjüdischer und interreligiöser Dialog – diesen Werten hat sich das Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES) verpflichtet. Es ist eines der 13 Studienwerke, die vom Bundesbildungsministerium gefördert werden. Vor zehn Jahren wurde es gegründet, zum Festakt im Oktober kommt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier. Die Katholische Nachrichten-Agentur (KNA) sprach am Montag in Berlin mit ELES-Geschäftsführer Jo Frank über jüdisches Leben in Deutschland, die AfD und das Verhältnis zur muslimischen Gemeinschaft.
KNA: Herr Frank, das Begabtenförderungswerk ELES gibt es jetzt seit zehn Jahren. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Jo Frank: Auf vielen Ebenen durchaus positiv. Wir wissen, dass wir durch ein Stipendium jungen Jüdinnen und Juden in Deutschland Impulse geben, von denen sie wissenschaftlich wie gesellschaftlich profitieren. Dadurch stärken wir auch die jüdische Gemeinschaft in Deutschland. Inhaltlich hat sich unsere Arbeit in den vergangenen Jahren verändert. Heute überlegen wir, was wir zu Themen beitragen können, die die jüdische Gemeinschaft betreffen und was wir gleichzeitig zu aktuellen Diskursen beisteuern möchten. Durch öffentliche Veranstaltungen, durch Ausstellungen oder Diskussionen in- und außerhalb der Begabtenförderung.
KNA: Das klingt zufrieden …
Frank: Das sind wir. Allerdings ist der Blick in die Zukunft nicht nur positiv. Wir müssen weiter kämpfen für Vielfalt in unserer Gesellschaft – unter dem Vorzeichen, dass Rechtspopulisten in Deutschland und Europa deutlich an Stärke gewonnen haben. Das hätten wir vor zehn Jahren nicht gedacht. Wir werden uns weiter einsetzen für ein offenes Deutschland, ein offenes Europa, in dem jüdisches Leben nicht nur möglich ist, sondern voll zur Entfaltung kommen kann.
KNA: Der Zentralrat der Juden in Deutschland hat sich bereits frühzeitig öffentlich gegen die AfD positioniert …
Frank: Das war richtig und für uns ein ganz wichtiges Signal. Die AfD geriert sich als Freund der jüdischen Gemeinschaft, wendet sich dabei gegen Muslime und weitere Minderheiten auf eine Art, die gegen Juden in Deutschland nicht möglich wäre. Aber klar ist: Wer heute Moscheen verhindert, verhindert morgen Synagogen. Das bedeutet auch, dass wir alle zusammenarbeiten müssen gegen Populisten, die eine plurale Gesellschaft mit Homogenisierungsphantasien infrage stellen. Wer will schließlich in einem Land leben, in dem Menschen systematisch ausgeschlossen werden, aus welchem Grund auch immer?
KNA: Bei ELES gibt es seit längerem eine besondere Kooperation mit dem muslimischen Studienwerk Avicenna. Warum ist das wichtig?
Frank: Es bestehen Spannungen zwischen den beiden Religionsgemeinschaften. Aber Juden und Muslime stehen sich nicht so antithetisch gegenüber, wie Nicht-Juden und Nicht-Muslime das oft denken. Dem entspricht auch der Grundgedanke der Zusammenarbeit mit Avicenna – zu sagen, es gibt mehr auf gesellschaftlicher Ebene, das uns eint, als was uns trennt: etwa die Migrationserfahrung, die religiöse Praxis. Auf politischer Ebene gibt es vieles, über das wir zu streiten haben – manchmal auch schmerzvoll. Wie unser Verhältnis ist, das möchten wir jedenfalls gern selbst bestimmen.
KNA: Wie ist Ihr Verhältnis zu den christlichen Religionsvertretern?
Frank: Die christlichen Kirchen sind wichtige Partner bei der Gestaltung einer offenen pluralen Gesellschaft. Der christlich-jüdische Dialog ist seit langem etabliert und insofern selbstbestimmt. Hier geht es nicht in erster Linie um theologische Fragen: Es gibt fundamentale Unterschiede, und trotzdem ist der Referenzrahmen ähnlich. Wenn ein Imam, ein Rabbiner und ein Priester von Gott sprechen, wissen alle, was gemeint ist. Uns als Studienwerk ist es aber wichtig, alle gesellschaftlichen Akteure einzubeziehen und gleichermaßen ernst zu nehmen – seien sie Hindus, Buddhisten oder nicht-religiöse Menschen. Das Gespräch mit allen ist wichtig, noch wichtiger ist die Zusammenarbeit.
KNA: Entsprechend richtet sich das von ELES 2015 gegründete Programm “Dialogperspektiven” – wo Sie Religionen und Weltanschauungen miteinander ins Gespräch bringen – an Stipendiaten aller 13 Begabtenförderungswerke?
Frank: Wir sind der Überzeugung, dass wir nur gemeinsam mit Vertretern unterschiedlicher Strömungen die Zukunft gestalten können. Viele Konflikte in den vergangenen zehn Jahren entstanden nicht zwischen Religionsgemeinschaften, sondern an der Schnittstelle zwischen Religion und Gesellschaft. Als zivilgesellschaftliche Akteure haben wir eine gemeinsame Verantwortung für unsere Gesellschaft – ob sie dabei durch unsere religiösen oder weltanschaulichen Einstellungen geformt sind, ist sekundär. Von Vielfalt profitieren alle, niemand verliert dadurch.
KNA: Rund 800 Stipendiaten hat ELES seit der Gründung gefördert, darunter orthodoxe aber auch nicht-religiöse Juden. Was haben sie gemeinsam?
Frank: Sie sind in der Tradition des Judentums verwurzelt, dabei dem Pluralismus verpflichtet. Und sie haben das Bewusstsein für eine jüdische Intellektualität, die eine sehr lange, Jahrhunderte alte Geschichte hat.
KNA: In Deutschland wird das Judentum vor allem mit der Shoah verknüpft. Wird sich daran je etwas ändern?
Frank: Die jüdische Gemeinschaft wird immer verbunden sein mit der Shoah. Das wird sich nie ändern. Aber dass jüdisches Leben in Deutschland nicht mehr als etwas wahrgenommen wird, das Verwunderung hervorruft, das wird früher kommen, als man jetzt vermutet. Die neue Generation geht ganz anders mit jüdischer Identität um, daran haben die postsowjetische Zuwanderung, aber auch die amerikanischen Juden und die Israelis, die nach Deutschland kommen, ihren Anteil. In der Kultur und den Künsten gibt es inzwischen eine Vielzahl jüdischer Akteure, genauso wie in den Wissenschaften und den Medien.
(KNA - tkrlt-89-00212) Foto: Pixabay