Viel Kritik und wenige Verbesserungen. Von Katrin Gänsler, Minna/Abuja (KNA).Vor 20 Jahren gab es in Gusau, der Provinzhauptstadt des Bundesstaats Zamfara im Nordwesten Nigerias, viel Jubel für den damaligen Gouverneur Ahmed Sani Yerima. Am 27. Oktober 1999 kündigte er an, dass künftig das islamische Gesetz, die Scharia, gelten sollte. Die Entscheidung begrüßten damals viele Muslime, erinnert sich Atta Barkindo, Leiter des Kukah Centre in Nigerias Hauptstadt Abuja, das der Bischof von Sokoto, Matthew Hassan Kukah, gründete. “Es hat psychologisch geholfen. Viele Muslime fanden, dass jetzt der Islam respektiert wird. Das sorgte für Genugtuung.”
Die Scharia – ein komplexes System aus Gesetzen und Normen zu allen Lebensbereichen, mehr ethischer Leitfaden als Anleitung zum Händeabhacken – sollte mehr soziale Gerechtigkeit, ein besseres Bildungs- und Gesundheitssystem bringen sowie die Korruption bekämpfen. Nach jahrzehntelanger Militärherrschaft waren viele Menschen frustriert. Nach den Wahlen und der Rückkehr zum Mehrparteiensystem im Februar 1999 war die Hoffnung auf einen Wandel groß. “Daran waren die
Politiker aber nicht interessiert, sondern nur daran, an die Macht zu kommen”, sagt Imam Nuruddeen Lemu. Er ist Forschungs- und Ausbildungsleiter am Da’wah Institute in Minna im nigerianischen Bundesstaat Niger.
Tatsächlich war die Einführung der Scharia vor allem eine politische Entscheidung. Mit Olusegun Obasanjo machte sie ein christlicher Staatspräsident aus dem Südwesten möglich, der nicht im Verdacht stand, seine Kirche zu bevorzugen. Er sicherte sich so Allianzen im muslimisch geprägten Norden. Dort “lassen sich Wählerstimmen gewinnen. Politiker nutzen dafür religiöses Entgegenkommen in Regionen, in denen überwiegend Muslime leben”, so Lemu. Atta Barkindo bewertet es genauso: “Die Politiker hatten Angst, ihre Unterstützer zu verlieren, wenn sie nicht auf die Forderungen reagierten.”
Die waren schließlich schon viele Jahrzehnte alt. Schon vor Beginn der Kolonialisierung im 19. Jahrhundert galt in den Reichen Sokoto und Borno die Scharia. Diese Staatsgebilde waren politisch mächtig und genossen überregional großes Ansehen unter Muslimen. Im 20. Jahrhundert verbanden die Menschen mit der Scharia alte Glanzzeiten. Auch nach der Unabhängigkeit von Großbritannien 1960 änderte sich der Ruf danach nicht.
Im Norden machte das islamische Gesetz jedoch vor allem Christen Angst. Bei mehreren Protesten im Bundesstaat Kaduna kamen im Jahr nach der Einführung der Scharia bis zu 5.000 Menschen ums Leben. Auch in Kano starben mindestens 100 Nigerianer bei Krawallen. Nach Einschätzung von Barkindo hat das mit dafür gesorgt, dass Nigeria heute mehr denn je entlang ethnischer Linien gespalten ist. “Christen im Norden fühlen sich marginalisiert und ausgegrenzt.” Das Problem sei auch, dass man viele nicht mehr mit Argumenten erreichen könne. “Die Menschen glauben, was sie sehen.”
Für ein besseres, menschenfreundlicheres Verständnis der Scharia setzt sich in Minna Hauwa Shaffii Nuhu ein. Die Muslimin ist Frauenrechtsaktivistin und kämpft unter dem Hashtag #ArewaMeTooMinna gegen Sexismus, Vergewaltigungen und Missbrauch. Darüber spricht sie auch in Schulen. “Bezüglich der Scharia gibt es sehr viele Missverständnisse”, sagt die junge Frau, die in Kano Rechtswissenschaften und islamisches Recht studiert. “Die Rechtsprechung ist nicht so rigide, wie sie oft dargestellt wird.” Zudem würden traditionelle Praktiken mit der Religion vermischt. “Bei Gewalt gegen Frauen haben wir generell eine Kultur des Schweigens und Wegsehens. Das hat nicht unbedingt etwas mit dem Islam zu tun.”
Trotzdem – wird sie drakonisch angewandt, zeigt die Scharia auch immer wieder ihr grausames Gesicht. Einem Viehdieb wurde deshalb ein Arm amputiert. “Damit sollte ein Exempel statuiert werden”, sagt Nuruddeen Lemu. Dafür verantwortlich seien ausgerechnet jene Politiker gewesen, die “tausend Mal mehr gestohlen hatten”.
Verhindert hat die Scharia im Nordosten auch nicht, dass sich die Terrorgruppe Boko Haram ausbreiten konnte, die viele als unislamisch ablehnen. Auch sie versprach mehr Gerechtigkeit. In den vergangenen zehn Jahren sind durch ihre Anschläge nach Schätzungen des Council on Foreign Relations mit Sitz in New York mehr als 36.000 Menschen ums Leben gekommen.
Insgesamt ist der Jubel über die verheißene Gerechtigkeit längst der Ernüchterung gewichen. “In Zamfara, wo das Ganze anfing, sahen wir weder nach vier noch nach acht Jahren die Schulen, die wir erwartet hatten. Weder hatte die Armut abgenommen, noch gab es eine bessere Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum”, sagt Lemu. “Was wir sahen, waren Politiker, die Staatsgelder für ihre nächsten Wahlkampagnen benutzten.”
(KNA - tlklt-89-00008)