Stuttgarter Tagung geht der Glaubensgemeinschaft auf den Grund. Von Christoph Schmidt, Stuttgart (KNA).
Seit mehr als einem Vierteljahrhundert diskutiert Deutschland über Islam und Integration. Rund fünf Millionen Muslime leben inzwischen hier, und die Binse, dass es den einen Islam nicht gibt, sondern nur etliche Facetten davon, fehlt in keiner Talkshow zum Thema. Trotzdem sei das Wissen darüber in der Mehrheitsgesellschaft oft noch dürftig, hieß es am Dienstag bei einer Tagung über die Glaubensgemeinschaft der Aleviten in der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart. Viele der 500.000 bis 800.000 meist türkischstämmigen Aleviten leben seit Jahrzehnten in Deutschland. Als Muslime fallen sie kaum auf – viele wollen es auch gar nicht sein.
“Fragen Sie drei Aleviten, wer sie sind, und Sie erhalten fünf verschiedene Antworten”, spielt Handan Aksünger-Kizil auf den alten Juristenwitz an. “Die einen sagen ‘Wir vertreten den wahren Islam’. Andere Aleviten sehen zwar Berührungspunkte mit dem Islam, aber verstehen sich als eigenständige Religion. Und eine dritte Gruppe spricht lieber von einer Lebensphilosophie und will mit dem Mehrheitsislam überhaupt nichts zu tun haben, schon gar nicht in Zeiten des religiösen Terrors”, so die Professorin für Alevitisch-Theologische Studien an der Universität Wien.
Erst im 13. und 14. Jahrhundert, also lange nach Mohammed, ist das Alevitentum in Anatolien und Persien aus dem schiitischen Zweig des Islam entstanden. Der Name verweist auf Ali, den Vetter des Propheten. Ihn und seine Nachkommen, die Imame, verehren Aleviten ähnlich wie die Schiiten. “Daneben sind aber auch die Sufi-Mystik und vorislamische Elemente wie der Glaube an die Wiedergeburt wichtige Pfeiler”, erklärt Cem Kara vom Wiener Institut für Islamisch-Theologische Studien.
Die ritualisierte Gottesverehrung des orthodoxen Islam lehnen die Aleviten ab. Die meisten Vorschriften der Scharia, die fünf Säulen des Islam wie Pflichtgebete oder Ramadanfasten spielen keine Rolle. Auch nicht die Verschleierung der Frau und die strenge Geschlechtertrennung. Im Koran, aber auch in Thora und Bibel suchen Aleviten Welterkenntnis, keine wörtlichen Anweisungen. Daneben orientieren sie sich an den Schriften ihrer sufischen Lehrmeister.
“Das wichtigste Buch ist der Mensch”, fasst Aksünger-Kizil die alevitische Esoterik zusammen. Höchstes Ziel des Gläubigen sei die Selbstvervollkommnung und das Erkennen Gottes in der Schöpfung und im Mitmenschen. “Beherrsche deine Hände, beherrsche deine Lende (den Sexualtrieb), beherrsche deine Zunge.” Bei ihren Gebetstreffen in den sogenannten Cem-Häusern wird auch Alkohol getrunken, musiziert, getanzt. Männer und Frauen beten gemeinsam unter der Leitung von geistlichen Gemeindeleitern, den Dedes.
Kein Wunder also, dass strenge Muslime den Aleviten immer wieder Ketzerei vorwarfen. In der Türkei, wo sie wohl ein Viertel der Bevölkerung stellen, gipfelte das nicht selten in blutiger Verfolgung. So starben 1993 bei einem Brandanschlag islamistischer Rechtsextremer auf ein alevitisches Kulturfestival in Sivas über 30 Menschen. Ein Signal für viele Aleviten in Deutschland, hier Wurzeln zu schlagen.
“Bis heute ist staatliche Diskriminierung von Aleviten Alltag in der Türkei, etwa beim Religionsunterricht”, sagt Yilmaz Kahraman vom Verband Alevitische Gemeinde Deutschland (AABF). Dagegen habe die Migration nach Europa und vor allem nach Deutschland seit den 1960er Jahren alevitisches Leben ohne Geheimhaltung ermöglicht. “Demokratische Werte wie Pluralismus und Meinungsfreiheit sind uns deshalb sehr wichtig. Religiösen Extremismus lehnen wir ab.”
Gleichwohl gibt es auch unter Aleviten archaisch anmutende Strukturen – zum Beispiel die herausgehobene Rolle bestimmter Familien als “Hüter des geheimen Wissens”. Noch heiratet man lieber unter sich und legt keinen Wert auf Konvertiten. “Aleviten glauben, dass jeder Mensch in seiner eigenen Religion den Weg zur Vervollkommnung finden sollte”, so Aksünger-Kizil. Der Integration in die säkulare Gesellschaft stehe das aber nicht im Weg.
Im Gegenteil, meint auch der katholische Theologe Timo Güzelmansur. Aus seiner Sicht sind Aleviten, die in neun Bundesländern eigenen Religionsunterricht geben dürfen, wegen ihrer religiösen Toleranz und relativ liberalen Haltung gegenüber Frauen besonders integrationsfähig. Und noch etwas verbindet Aleviten für ihn mit der derzeitigen Debatte in Deutschland: “Aleviten haben oft ein besonders ausgeprägtes Umweltbewusstsein. Denn in der Schöpfung und in jedem Lebewesen wohnt das göttliche Licht.”
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