Liebe Leserinnen und Leser,
„selig, die Frieden stiften“ möchte man den Verantwortlichen in der Türkei zurufen, die den Beschluss gefasst haben, die Hagia Sophia in eine Moschee umzuwandeln. Die darauffolgenden Handlungen, vom ersten muslimischen Gebet an, wirken nicht Frieden stiftend: Der Präsident der türkischen Religionsbehörde Ali Erbaş und damit die oberste religiöse Instanz des Landes hat die erste Freitagspredigt mit einem Schwert in der Hand gehalten und sprach von der Hagia Sophia als Zeichen der Eroberung (Fethin nişanesi). Das ist unmissverständlich. Es geht um „Raumgewinn“, um Macht und Demonstration. Allerdings ist das alles in der Lesart der Diyanet religiös legitim und im Sinne des islamischen Propheten, dessen Verheißung sich erfüllen würde: „Konstantinopel wird auf jeden Fall erobert“, zitierte Erbaş ein Hadith. Ein paar Sätze später sagte er: „Die Hagia Sophia ist der Ort, in welcher der Welt die große Barmherzigkeit des Islam erneut verkündet wird.“ Es wurde aber auch der nächste zu befreiende Ort adressiert, nämlich „insbesondere die masǧid al-aqṣā“.
Diese Vorgehensweise ist befremdlich und macht viele Anstrengungen für den interreligiösen Dialog und die Verständigung in der Türkei und darüber hinaus zunichte und wirft Fragen auf. Aus welchen Motivationen heraus haben muslimische Verbände mit türkischem Bezug in Deutschland Dutzende von Moscheen „Ayasofya Camii“ (Hagia Sophia Moschee) genannt? Ist die Zeremonie in Istanbul das angestrebte Ziel oder welche Botschaft soll von der Namensgebung ausgehen? Es klingt wie Hohn, wenn der Präsident der türkischen Religionsbehörde Ali Erbaş während jenes Freitagsgebets mit Schwert von der Vollendung der islamischen Eroberung Konstantinopels durch die Umwandlung der Hagia Sophia schwärmt und die „islamische Barmherzigkeit“ propagiert. Denn die Eroberungsmentalität hat wieder zugeschlagen: Die Istanbuler Chora-Kirche wird auch in eine Moschee umgewandelt…
Zur Hagia Sophia findet sich in diesem Heft mit dem Brief des ÖRKs an den türkischen Präsidenten Erdoğan sowohl eine christliche Reaktion dokumentiert als auch eine muslimische mit der Stellungnahme kemalistischer Theologen und Schriftsteller. Eine positive Entwicklung hingegen ist mit der „Charta der Neuen Tugendallianz“ dokumentiert, zu der ferner eine einordnende Studie von Martino Diez abgedruckt ist. Diese Neue Tugendallianz ist ein weiterer mutiger Schritt zum Dialog, den die Vereinigten Arabischen Emirate nach dem Papstbesuch Anfang 2019 unternehmen, um zu Stabilität und Frieden in der Region beizutragen. Genauso, wie sie auch hoffungsvoll stimmende Nachrichten aus dem Heiligen Land vernehmen lassen. Denn seit Mitte August steuern die VAE und Israel auf eine Normalisierung der Beziehungen hin. Damit reichen sich zwei als verfeindet geltende Länder, die offiziell keinerlei Beziehungen pflegten, gegenseitig die Hand und möchten Frieden schließen. Als Außenstehende kann man nur zurufen „Selig, die Frieden stiften“. Denn nach dem Papstbesuch Anfang 2019 ist dies ein weiterer mutiger Schritt der VAE, zu Stabilität und Frieden in der Region beizutragen. Damals wurde das Dokument von Abu Dhabi zwischen dem Vatikan und der Azhar unterzeichnet. Darin ist der unmissverständliche Aufruf enthalten, dass alle ihren Beitrag zu Verständigung und Dialog beisteuern sollten. Mögen diese Annäherungen ein erster Schritt sein, damit Frieden in der Region verwirklicht wird.
In diesem Sinne viel Freude bei der Lektüre des Heftes!
Ihr Timo Güzelmansur
Inhalt
Studien
Überlegungen zur Methodik eines akademisch‑komparativen Dialogs. Eine Reflexion in Antwort auf Villagráns „Gespräche, die verändern“
Nora Kalbarczyk
Die Glaubensgemeinschaft der Aleviten. Identitätssuche im Spannungsfeld der Gottesvorstellungen
Timo Güzelmansur
Die Tugendallianz: unterwegs zu einem islamischen Naturrecht?
Martino Diez
Dokumentation
Charta der Neuen Tugendallianz
New Alliance of Virtue,
Abu Dhabi, 11. Dezember 2019
Die Religionsfreiheit im Dienste des Allgemeinwohls
Internationale Theologische Kommission,
Vatikanstadt, 21. März 2019
Brief des ÖRK an Präsident Erdoğan, die Hagia Sophia als gemeinsames Erbe der Menschheit zu bewahren
Genf, 11. Juli 2020
Stellungnahme atatürkistischer Theologen und Schriftsteller in Bezug auf die Diskussion um den rechtlichen Status der Hagia Sophia
Türkei, 22. Juli 2020
Grußbotschaft der DBK an die Aleviten in Deutschland zum Aşure-Fest
Bonn, 20. August 2020
Berichte
Ein Dialog des Lebens und eine brückenbauende Reise – vom Krieg zur Versöhnung. Ein Bericht über die Dialogue for Life and Reconciliation Organization (DLR Libanon)
Ziad Fahed
Interreligiöses Lernen an der Universität. Ergebnisse der AIWG‑Projektwerkstatt „Religiöse Diversität in Curricula der islamisch-theologischen Studien“
Gerrit Mauritz
Rat der Religionen Pforzheim. Was sich tut, wenn sich was tut
Tobias Gfell
Buchbesprechungen
Abmeier, Karlies/Jacobs, Andreas/Köhler, Thomas (Hg.): Rechtliche Optionen für Kooperationen zwischen deutschem Staat und muslimischen Gemeinschaften
Sebastian Prinz
Delavelle, Stéphane: Franciscain au Maroc. Huit siècle de rencontres
Tobias Specker SJ
Rüttgers, Peter: Islamische Religionsvermittlung – konkret. Beobachtungen zur religiösen Ideologie von DITIB in Selbstdarstellungen und Kinderbüchern
Christian W. Troll SJ
Literaturhinweise
Zeitschriftenschau