Eine Debatte im Wirrwarr der Begriffe
Islam, Islamismus, Dschihadismus – der Islamdiskurs verheddert sich schnell im Dickicht der Begriffe. Kein Wunder, denn die Grenzen sind fließend.
Von Christoph Schmidt (KNA)
Bonn (KNA) Nach islamistisch motivierten Mordanschlägen ringen die Menschen um Worte. Und um Begriffe, die den religiös begründeten Terror und seine Wegbereiter analytisch erfassen sollen, oft aber nur neue Fragen aufwerfen. Denn wo hört der “richtige Islam” auf und fängt “Islamismus” an? Was unterscheidet fundamentalistische Muslime von erzkonservativen? Warum werden Fanatiker als “Dschihadisten” bezeichnet, obwohl Islamgelehrte den Dschihad stets als reinen Verteidigungskrieg deuten? Immer wieder verschwimmt die Debatte in einem Bedeutungsdickicht.
Dabei erscheint es auf den ersten Blick einfach: Muslim ist, wer die “fünf Säulen” des Islam befolgt: das Bekenntnis zu Allah und seinem Gesandten Mohammed, die täglichen Gebete, das Ramadan-Fasten, die Almosen und die Wallfahrt nach Mekka. Diese religiösen Pflichten sind im Prinzip mit der westlichen Demokratie problemlos vereinbar. Millionen friedliche, säkular und demokratisch eingestellte Muslime in Europa beweisen das.
Der Teufel steckt im Detail der ersten Säule. Denn welches Verhalten der Glaube an Allah und den Gesandten verlangt, hängt von der jeweiligen Auslegung des Koran und der überlieferten Aussagen und Taten Mohammeds (Sunna) ab. Es fehlt im sunnitischen Islam eine oberste Lehrautorität, die den “richtigen Islam” definiert. Gleichwohl entwickelte sich in den Jahrhunderten nach Mohammeds Tod ein sunnitisch-orthodoxer Mehrheitsislam auf Basis der vier großen Scharia-Rechtsschulen.
Diese vertreten ein eher buchstabengetreues Verständnis von Koran und Sunna, inklusive fehlender Gleichberechtigung für Andersgläubige und Frauen im westlichen Sinne sowie Strafen für Homosexuelle und den Abfall vom Glauben. In den meisten islamischen Ländern gilt die Scharia allenfalls noch im Zivil- und Erbrecht, volle Religionsfreiheit gibt es aber so gut wie nirgends. Im Zuge der Reislamisierung seit den 1970er Jahren hat der orthodoxe Islam in den meisten islamischen Gesellschaften wieder prägenden Einfluss gewonnen, sichtbar vor allem an der Verbreitung des Kopftuchs. Bis auf wenige progressive Theologen, meist im Westen, geben orthodoxe Gelehrte international den Ton an.
Wo beginnt nun der Islamismus? Laut Definition unterscheidet ihn vom Islam, dass er dessen Regeln als Ideologie zur politischen Grundlage des Staates machen will. Für seine mehr oder weniger friedliche Variante, die auf den “Marsch durch die Institutionen” setzt, haben sich die synonymen Begriffe “politischer Islam” und “legalistischer Islamismus” etabliert. Der terroristische Zweig trägt heute meist das Label “Dschihadismus”.
Der Göttinger Islamwissenschaftler Tilman Nagel hält die Trennung zwischen orthodoxem Mehrheitsislam und Islamismus für konstruiert. Solange die religiösen Quellen nicht historisch interpretiert würden, bleibe die Tendenz zu einer fundamentalistischen Auslegung und zu gewaltbejahendem Herrschaftsanspruch. Der Münsteraner Islamtheologe Mouhanad Khorchide unterstreicht eine fehlende Säkularisierung im Islam. De facto hätten sich die konservativen Theologen nie vom Konzept des islamisch definierten Staates verabschiedet, in dem Religion und Politik nicht zu trennen sind.
Dagegen verweisen Forscher wie der renommierte Arabist Thomas Bauer auf die Vieldeutigkeit, die den Islam stets ausgemacht habe – bis hin zur einst verbreiteten Akzeptanz von Homosexualität und der auf individuelle Gotteserkenntnis und Menschenliebe ausgerichteten Mystik. Selbst ein Kritiker des konservativen Islam wie der Politologe Bassam Tibi unterstreicht, dass die Scharia keinen politischen Ordnungsrahmen vorschreibt.
Die meisten Beobachter betonen, erst die Konfrontation mit dem Westen habe im 19. und 20. Jahrhundert die klar umrissene Ideologie des Islamismus hervorgebracht, die sich aber auch auf mittelalterliche Denker wie den Theologen Ibn Taimiya (gest. 1328) berufen konnte. Die Grenzen zwischen orthodoxem Islam und Islamismus sind dabei letztlich fließend. In der aktuellen Debatte bestreitet deshalb kaum jemand, dass Islam und Islamismus nichts miteinander zu tun haben. Auch im Arabischen hat sich der Begriff “islam siyasi” – politischer Islam – für den legalistischen Islamismus durchgesetzt.
Organisationen wie die türkische Milli Görüs (IGMG) und die arabisch geprägte Muslimbruderschaft verfolgen laut Verfassungsschutz klar eine politisch-islamische Agenda. Wenn deren Funktionäre wie zuletzt der IGMG-Generalsekretär Bekir Altas die Bezeichnung “politischer Islam” als Munition für rechte Islamgegner ablehnen, gilt das Beobachtern als Schutzbehauptung.
Unbestreitbar ist der Satz, dass zumindest dschihadistische Mörder den Islam missbrauchen. Denn selbst orthodoxe Gelehrte, die den “Heiligen Krieg” als Offensivkrieg gegen die “Ungläubigen” auslegten, unterwarfen ihn stets strengen Regeln, die von Terroristen massiv verletzt werden – etwa das Gebot, Zivilisten zu schonen. Fest steht auch, dass die meisten Opfer von Dschihadisten weltweit Muslime sind.
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