Mythos Abraham
Der 4.000 Jahre alte Stufentempel von Ur gilt als Symbol der Hochkultur im Zweistromland. Ob der biblische Stammvater Abraham dort lebte, steht dahin – aber nach Papst Franziskus könnten auch schiitische Pilger kommen.
Von Burkhard Jürgens (KNA)
Vatikanstadt/Berlin (KNA) Papst Franziskus reist im Rahmen seines Irak-Besuchs kommende Woche nach Ur – in eine der ältesten Städte der Menschheit. Dort will er mit Vertretern anderer Religionen in dem von ethnischen und konfessionellen Gegensätzen zerrütteten Land um Frieden beten. Die 4.000 Jahre alten Ruinen in der Wüste des Südirak als Schauplatz sind von hoher symbolischer Bedeutung: Ur, heute Tell el-Muqayyar, gilt als Heimat Abrahams, den Juden, Muslime und Christen als gemeinsamen Stammvater verehren.
Nach biblischer Überlieferung gelangte Abraham über Harran an der heutigen türkisch-syrischen Grenze ins südliche Palästina. Dort erhielt er die göttliche Zusage des Landes und einer Nachkommenschaft “so zahlreich wie die Sterne am Himmel”. Von Abrahams Sohn Isaak leiten sich die Stämme Israels her; der Koran schildert Abraham als “Freund Gottes” und Erbauer des Heiligtums von Mekka, also praktisch als ersten Muslim. Christen sehen sich ihrerseits als Erben seiner Verheißung.
Anlässlich der Jahrtausendwende wollte sich schon Johannes Paul II. (1978-2005) “wenn es Gottes Wille ist, gern nach Ur in Chaldäa, dem heutigen Tell el-Muqayyar im südlichen Irak begeben – in die Stadt also, wo nach biblischem Bericht Abraham das Wort des Herrn vernahm”. Sein Plan scheiterte am damaligen Machthaber Saddam Hussein.
Seit dem 17. Jahrhundert in Europa bekannt, wurde Ur systematisch erst seit 1922 durch den britischen Archäologen Leonard Woolley ausgegraben. Er entdeckte rund 2.000 antike Gräber, in einigen von ihnen königliche Beigaben, ein Lapislazuli-Mosaik, goldene Prunkwaffen. Die Funde elektrisierten die Öffentlichkeit ähnlich wie das Pharaonengrab Tutanchamuns in Ägypten.
Keilschrifttexte belegen die Bedeutung Urs als politisches Zentrum mit vielfältigen Handelsbeziehungen und einer ausgefeilten Bürokratie. Einst floss der Euphrat nahe vorbei, spendete Leben und Wohlstand. Über Schiffkais und Karawanenstraßen kamen Güter aus Kurdistan und vom Persischen Golf, ja selbst aus Indien; Werkstätten produzierten Webwaren für den Export. Um die 60.000 Menschen bevölkerten Ur, unter ihnen Zugewanderte aus aller Herren und Götter Länder.
Ausweis der Bedeutung der Stadt ist die Zikkurat, ein monumentaler Tempelturm für den Mondgott Nanna. König Ur-Nammu und sein Sohn Schulgi errichteten den Bau vor mehr als vier Jahrtausenden. Seine mächtigen Mauern aus gebrannten Ziegeln unterstreichen den Geltungsanspruch der Erbauer und den Rang Urs als politisches Zentrum mit weitreichendem Einfluss. “Auf diesem Nimbus bauen alle späteren Zeiten auf”, sagt Margarete van Ess, Leiterin der Orient-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts in Berlin.
Diese Blütezeit liegt indessen lange vor dem Entstehen der Abraham-Erzählungen. Aus archäologischer Sicht gibt es keinen Beleg, dass der Stammvater dort lebte – aber Woolley half der Mythos Abraham, Geld für seine Grabung einzuwerben. Auch vor dem geplanten und kurzfristig abgesagten Papstbesuch im Jahr 2000 versuchte man den biblischen Charakter durch das sogenannte Abrahamshaus hervorzuheben. “Für Archäologen ein bisschen misslich, weil man mehrere Häuser zu einem Gehöft zusammenrestaurierte”, sagt van Ess. Es sollte halt nach was aussehen.
Seit dem Ersten Golfkrieg 1980 findet in Ur nur noch selten wissenschaftliche Feldforschung statt. Dafür hinterließen militärische Konflikte Schäden, nicht zuletzt wegen des benachbarten Luftwaffenstützpunkts. Nach dem Auftauchen von Fotos geparkter irakischer Kampfjets vor dem Monument gingen im Zuge der “Operation Wüstensturm” 1991 neben dem Tempel Bomben nieder und übersäten die Wände mit Pockennarben. Später wurden antike Vorstädte planiert. “Archäologisch eine Katastrophe”, sagt van Ess.
Restaurierungen aus den 1940er und 50er Jahren “zerfallen allmählich”, so die Wissenschaftlerin. Die extreme Verdunstungshitze zieht Bodenfeuchte und Salze ins Mauerwerk; hinter der modernen Ziegelschale mit Zementfugen erodiert die alte Bausubstanz. Fachleute unterschiedlicher Nationen – auch aus Deutschland – beteiligen sich am Erhalt des Weltkulturerbes im südirakischen Marschland. Doch seit der Pandemie liegen Aktivitäten vor Ort brach.
Ur hätte laut van Ess Chancen als Besuchermagnet. Der Irak setzt stark auf eine Erschließung; Holzbohlenwege, Dränagen und Beschilderungen machen einen Anfang. Bildungsreisende aus dem Westen allein könnten allerdings “keinen Ökonomen hinter dem Ofen hervorlocken”, so die Archäologin. Touristische Infrastruktur fehlt, das Klima ist unerbittlich. Dafür ist nach van Ess’ Einschätzung der Pilgerverkehr im Irak “extrem im Wachsen”. Millionen von schiitischen Wallfahrern zu den heiligen Stätten in Nadschaf und Kerbela laufen Mekka den Rang ab. Viele von ihnen würden sich sicher auch nach Ur aufmachen – in die Stadt des Gottesfreundes Ibrahim, der arabische Name Abrahams.
Zuerst einmal kommt als Pilger Franziskus. Sein wiederkehrender Appell seit Monaten geht dahin, sich über ethnische, religiöse und soziale Grenzen hinweg als Geschwister in der einen Menschheit zu begreifen. “Als Gläubige sind wir herausgefordert, zu unseren Quellen zurückzukehren, um uns auf das Wesentliche zu konzentrieren: die Anbetung Gottes und die Nächstenliebe”, schrieb der Papst in seiner jüngsten Enzyklika “Fratelli tutti”. Das Gebet in Ur, Quelle für die drei monotheistischen Religionen, soll den “Söhnen und Töchtern Abrahams” gewidmet sein.
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