Hätte die Tat verhindert werden können?
Seine brutale Ermordung durch Islamisten war ein Fanal. Schon bald stellte Papst Franziskus die Weichen: Der französische Priester Jacques Hamel soll möglichst bald seliggesprochen werden.
Von Alexander Brüggemann (KNA)
Bonn/Rouen (KNA) Für die vom IS verfolgten Christen in Syrien etwa oder die Terroropfer von Boko Haram in Nigeria könnte der Vorgang einen eigentümlichen Beigeschmack haben. Im von islamistischer Gewalt nur selten gebeutelten Westen aber war der Reflex vieler Katholiken nach dem brutalen Mord an einem einfachen Gemeindepriester klar: “santo subito!” – Seligsprechung, so schnell wie möglich. Was vor fünf Jahren in dem normannischen Arbeiterort Saint-Etienne-du-Rouvray bei Rouen geschah, führte den Gewohnheitschristen Westeuropas schlagartig die Realitäten in anderen Weltregionen vor Augen.
“Du nimmst ein Messer, gehst in eine Kirche, du schlachtest jemanden ab, trennst zwei oder drei Köpfe ab, damit hat es sich!” Der 19-jährige Islamist Adel Kermiche kündigte seine Tat wie selbstverständlich in den vermeintlich Sozialen Netzwerken an. Zwar war er einschlägig polizeibekannt und trug eine elektronische Fußfessel. Und doch konnte er völlig ungehindert am Morgen des 26. Juli 2016, vor genau fünf Jahren, in die Pfarrkirche des Ortes spazieren und den 85-jährigen Geistlichen Jacques Hamel am Altar niederstechen und töten. Mit einem Küchenmesser, wie man es zum Gemüseschälen benutzt.
Seinen gleichaltrigen Mittäter Abdel Malik Petitjean hatte er erst vier Tage zuvor kennengelernt. Die beiden hatten sich über das Internet radikalisiert; die Moschee besuchten sie eher selten. Nach Ansicht französischer Antiterrorexperten hätte die Tat mit besserer technischer und personeller Ausstattung der Geheimdienste verhindert werden können, wie die Zeitschrift “La Vie” kürzlich berichtete. Zudem habe die Mutter eines der Täter die Polizei gewarnt – doch sie sei nicht ernstgenommen worden.
Chat-Protokolle der Täter mit dem 2017 getöteten französischstämmigen Dschihadisten Rachid Kassim belegten zudem, dass sich die jungen Männer nicht selbst radikalisiert hätten; das Attentat sei gezielt von Syrien aus geplant worden. Demnach diskutierten die Täter mit Kassim das Ziel des Anschlags. Auch eine Synagoge oder einen Nachtclub habe man erwogen. Am Ende entschied man sich für eine Kirche.
Die Bluttat ist improvisiert, offenbar mit einem bloßen Blick auf den Gottesdienstplan des Ortes. Einer der nur fünf Messbesucher, Guy Coponet, hat an dem Tag Geburtstag, wird 87. Die Attentäter zwingen ihn, mit einer Handkamera zu filmen, was dann folgt.
Die beiden Muslime reißen alles herunter, was auf dem Altar steht, halten eine Art Kampfpredigt. Der Priester, Jacques Hamel, will sie beruhigen – doch er weigert sich niederzuknien. Mit zwei Messerstichen beenden sie sein Leben. Dann ist der zweite Mann an der Reihe, Guy. Sie stechen ihn in Arm, Hals und Rücken. Stark blutend sackt er zusammen, vor den Augen seiner entsetzten Ehefrau. Doch er überlebt – auch weil einer Ordensfrau die Flucht gelingt, die ein Einsatzkommando verständigt.
Unterdessen beginnt einer der Islamisten mit den traumatisierten Frauen ein gespenstisches Gespräch über Gott und ihren Glauben. Als die Polizei eintrifft, treten die Täter hinaus – sie rufen “Allahu akbar” und werden erschossen.
Ja, in Syrien, im Irak, in Nordkorea und anderswo sterben Tausende Christen, weil sie Christen sind; viele durch die Hand von Islamisten. Doch Hamel war der erste christliche Priester, der im 21. Jahrhundert in Westeuropa vermeintlich im Namen Allahs ermordet wurde – in einer simplen französischen Dorfkirche in der Normandie.
Papst Franziskus bezeichnete Hamel als “Märtyrer” des 21. Jahrhunderts und gab vorzeitig Grünes Licht für sein Seligsprechungsverfahren; die im kirchenrechtlichen Verfahren vorgeschriebene Fünf-Jahres-Frist bis zum Prozessbeginn setzte er schon nach drei Monaten aus. Rouens Erzbischof Dominique Lebrun wie auch der Papst selbst bekundeten seither immer wieder ihren Wunsch, es möge möglichst schnell gehen.
Sein ganzes Leben verbrachte der einfache und treue Gemeindepriester Hamel als Diener der einfachen Leute an den Rändern von Rouen. Er trug abgestoßene, einfache Kleidung, mokierte sich schon in den 60er Jahren über seinen Bischof, der mit einem zu dicken Wagen vorfuhr. Seinen Priesterbruder rügte er, weil der im Peugeot unterwegs war – in einem Viertel mit einem großen Renault-Werk. Ein Franziskus-Mann, ein Priester des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965).
Seit März 2019 ist der Untersuchungsprozess auf Bistumsebene abgeschlossen; 69 Zeugen und Zeitgenossen Hamels wurden befragt. In Rom erstellt in einer zweiten Stufe die Heiligsprechungsbehörde einen Bericht für den Papst, bei dem die Letztentscheidung über die Seligsprechung liegt. Für “Märtyrer”, die aus “Hass auf den Glauben” ermordet wurden, entfällt der Nachweis eines Heilungswunders auf Vermittlung des Kandidaten.
Immer schneller dreht sich das Rad der Ausnahmen für ein Verfahren, das der Vatikan eigentlich schon vor rund 300 Jahren zur Entschleunigung und Objektivierung entwickelte und anwendete. Johannes Paul II., der Papst aus dem kommunistischen Polen, sprach im Wunsch, den Menschen des blutigen 20. Jahrhunderts Vorbilder zu geben, mehr Personen selig und heilig als all seine Vorgänger zusammen.
Aber die Maschinerie der angelaufenen Prozesse taktet auch unter Benedikt XVI. (2005-2013) und Franziskus weiter. Inzwischen ist der Argentinier der Papst mit den meisten Selig- und Heiligsprechungen. Den Eindruck von Eiligsprechungen sollte die Kirche in eigenem Interesse vermeiden. Im Fall Hamel freilich ist die theologische und politische Botschaft klar erkennbar: Liebe siegt über den Hass. Man will ein populäres Vorbild im Angesicht islamistischer Bedrohung bieten, den Terroristen christliche Nächstenliebe entgegenhalten. Hamels Mörder, so Rouens Erzbischof Lebrun, wollten “einen Priester töten – und haben einen Märtyrer geschaffen”.
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