Liebe Leserinnen und Leser,
seit dem 7. Oktober 2023 erfahren viele interreligiöse Aktivitäten Rückschläge im Hinblick auf Projekt- und Gremienarbeit. Was vor Oktober selbstverständlich war, scheint aktuell kaum möglich. Die durch die Hamas-Terroristen genommenen Geiseln sind immer noch nicht frei. Die humanitäre Katastrophe im Gazastreifen wird dramatischer. Die Lage ist schier zum Verzweifeln und besonnene Stimmen rar! Der interreligiöse Dialog ist stark angefragt und wer für das Gespräch mit den verschiedenen Akteurinnen
und Akteuren plädiert, bringt viel Kraft und Mut. Ein Beispiel ist Rabbiner Edward van Voolen, der sich gerade nach dem 7. Oktober und trotz allem für mehr Dialog zwischen allen Geschwistern der abrahamitischen Traditionen ausspricht. Eine ermutigende Perspektive, das Gespräch weiterzuführen. Wie van Voolen schreibt: „Wenn nicht jetzt, wann dann?!“
Denn gerade jetzt nehmen in Deutschland antisemitische und antimuslimische Parolen besorgniserregend zu; rechtsextreme Milieus polarisieren, gehen mit populistischen Aussagen auf Stimmenfang, möchten einen Keil in die Gesellschafft schlagen und gefährden das friedliche Zusammenleben. Menschen werden wieder nach ethnischen und anderen Merkmalen als dem „natürlichen“ Volk zugehörig fantasiert oder abgestempelt. Dieser völkische Nationalismus erinnert an die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte und erfährt mit Recht Widerspruch. Menschen gehen auf die Straßen und demonstrieren gegen diese menschenverachtende Ideologie. Dass die katholische Kirche weiterhin klar Position bezieht, die deutschen Bischöfe sich in dieser Frage eindeutig zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung bekennen und sich zugleich gegen populismus und Extremismus stellen, ist ein deutliches Zeichen und Ermutigung für alle, die gegen Rechtsextremismus demonstrieren.
Nicht nur Fremdenfeindlichkeiten beängstigen, sondern auch die nicht enden wollenden Kriege, wie u. a. in der Ukraine. In diese Situation spricht das Friedenswort der deutschen Bischofskonferenz. „Wenn ihr in ein Haus kommt, so sagt als Erstes: Friede diesem Haus!“ (Lk 10,5) Angelehnt an diese Bibelstelle entwickeln die deutschen Bischöfe ihr Friedenswort, das sie Ende Februar der Öffentlichkeit vorgestellt haben und in Teilen hier dokumentiert ist. Diese Vision für Frieden ist nicht nur abstrakt, sondern kann konkretisiert werden. Dabei kommen Religionen eine wichtige Rolle und eine Verantwortung zu, sowohl für die Beziehungen der einzelnen Menschen untereinander als auch für den gesellschaftlichen Kontext. Schließlich ist es nicht unerheblich, in welchem Verhältnis eine Religion zu einem staatlichen System steht und wie sie es nachhaltig prägt. Gewährleistet es Freiheitsrechte und schützt es die Menschenwürde aller? Das ist die Grundlage für ein nachhaltiges und friedliches Zusammenleben, in dem religiöse Differenzen als Bereicherung und nicht als Belastung betrachtet werden. In der arabischsprachigen islamischen Theologie gibt es in den letzten Jahren verstärkt Überlegungen, wie moderne Toleranzvorstellungen auch islamrechtlich begründet werden können. Stephan Kokew beleuchtet in seiner Studie verschiedene Wege, den ḏimma-Begriff neu zu bewerten, und
zeigt auf, dass dieser noch immer nicht obsolet ist. Sabrina Schmidt beschäftigt sich mit einer Thematik des gesellschaftlichen Zusammenlebens und versucht, anhand von zwei konkreten Beispielen aus Medien und Populärkultur Potenziale aufzuzeigen, diese rassismuskritisch zu nutzen. Möge das vorliegende Heft ein paar Anregungen für ein friedliches Miteinander liefern.
In diesem Sinne viel Freude bei der Lektüre!
Ihr Timo Güzelmansur
INHALT
Studien
Facetten von ḏimma. Altbekanntes und Neues
Stephan Kokew
„Ich glaube, ich bin viele Dinge.“
Zu den Potenzialen einer rassismuskritischen Populärkultur am Beispiel von Futur Drei und Ebow
Sabrina Schmidt
Wir müssen miteinander reden. Juden und Muslime in Deutschland und der Gaza-Krieg
Edward van Voolen
Dokumentation
Ansprache von Papst Franziskus an die Teilnehmenden des 4. internationalen Kongresses von PLURIEL
Abu Dhabi, 4. Februar 2024
„Friede diesem Haus“. Auszüge aus dem Friedenswort der deutschen Bischöfe
Bonn, 21. Februar 2024
Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar. Erklärung der deutschen Bischöfe
Augsburg, 22. Februar 2024
Al-Mizan: Ein Bündnis für die Erde. Anhang des Dokuments
Nairobi, 27. Februar 2024
Berichte
Das Mahl mit Lebenden und Toten – ein Kultgeschehen?
Monotheismustagung des Forum für Weltreligionen,
Stift St. Florian, 10.–12. September 2023
Brigitte Proksch
Liberaler Islam in Deutschland.
Gemeinsame Tagung der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart und der Stiftung Weltethos, Stuttgart, 6. Februar 2024
Tim Florian Siegmund
Auswirkungen und Perspektiven des „Dokuments über die menschliche Brüderlichkeit“.
4. Kongress des Forschungsnetzwerks PLURIEL,
Abu Dhabi, 4.–7. Februar 2024
Dirk Ansorge
Buchbesprechungen
Boehme, Katja:
Interreligiöses Begegnungslernen. Grundlegung einer fächerkooperierenden Didaktik von Weltsichten
Michael Schober
Gräf, Bettina/Tieke, Julia:
111 Orte in Berlin, die vom Islam erzählen
Sebastian Prinz