“Zu wenig Unterstützung für zeitgemäßen Reformislam”
Der Islam ist vielfältig. Während die großen Moscheeverbände ein konservatives Glaubensverständnis pflegen, hinterfragen liberale Muslime die traditionellen Lehren. Vom Staat fühlen sie sich oft im Stich gelassen.
Die Förderung eines liberalen Islams in Deutschland war erklärtes Ziel der scheidenden Bundesregierung. In die Weiterentwicklung des Religionsverfassungsrechts sollten auch “progressive und in Deutschland beheimatete islamische Gemeinschaften” eingebunden werden, hieß es Ende 2021 im Koalitionsvertrag der Ampel.
Säkulare Muslime bilden einen Großteil der muslimischen Bevölkerung in Deutschland und stehen für einen toleranten, spirituellen Islam. Eine wörtliche Auslegung des Korans und die Scharia lehnen sie ab. Für die deutsche Integrationspolitik wären sie ein natürlicher Verbündeter. Allerdings sind sie kaum organisiert.
Die eigentlichen Ansprechpartner des Staates sind deshalb die konservativen Moscheeverbände, die ihr traditionelles Islamverständnis oft mit der Bindung an die Herkunftsländer verknüpfen und die verfassungsrechtliche Gleichstellung mit den Kirchen anstreben. Dabei stehen Organisationen wie die
aus der Türkei gesteuerte Ditib oder der Zentralrat der Muslime in Deutschland immer wieder in der Kritik, abgeschottete Parallelgesellschaften zu fördern.
Progressive Muslime ziehen zum Ende der Regierung eine magere Bilanz. Das Hofieren der Verbände durch die Politik gehe weiter, ihr Selbstverständnis als Interessenvertretung anderer Staaten werde ausgeblendet, kritisiert etwa die Berliner Alhambra Gesellschaft gegenüber der Katholischen
Nachrichten-Agentur (KNA). “Die nächste Bundesregierung muss sich ehrlich machen. Es ist allerhöchste Zeit für eine religionspolitische Zeitenwende im Umgang mit Ditib und Co.”, sagt Alhambra-Projektleiter Eren Güvercin.
Seit Jahren verspreche die deutsche Politik, sich für einen vielfältigen Islam einzusetzen – “doch die Praxis sieht anders aus”, meint die Gründerin der liberalen Ibn Rushd-GoetheMoschee in Berlin, Seyran Ates, im Gespräch mit KNA. Muslime, die offen gegen den konservativen Mehrheitsislam aufbegehrten, erhielten Morddrohungen – wie sie selbst. Seit Jahren stehen Ates und andere Wortführer des Reformislams unter Polizeischutz.
“Es hapert an ehrlichen Debatten”, sagt sie über die deutsche Islampolitik. “Die wahren Integrationsprobleme werden nicht angegangen, weil man Angst vor dem Vorwurf des Rassismus und der Muslimfeindlichkeit hat.” Auch die Deutsche Islam Konferenz (DIK), die Plattform für den Dialog zwischen
Staat und Islam, hat Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) aus Sicht von Ates nicht für eine Stärkung progressiver Stimmen genutzt.
Auch der Liberal-Islamische Bund (LIB), der bundesweit gut ein halbes Dutzend Gemeinden unterhält, vermisst bei Ministerien “die Sensibilität für die Vielfalt der muslimischen Gemeinschaft”. Bei DIK-Podien müsse man immer wieder darauf drängen, nicht nur Vertreter der großen Verbände einzuladen, so der LIB auf KNA-Anfrage. Insgesamt bilde die 2006 gegründete Konferenz die Pluralität des Islams aber inzwischen besser ab als früher.
Der islamische Theologe Mouhanad Khorchide sieht die liberale Strömung gegenüber den Verbänden strategisch im Nachteil. “Gerade weil säkulare Muslime ihre Religion als Privatsache verstehen, organisieren sie sich weniger.” Obendrein fehlten ihnen die Finanzquellen aus dem islamischen Ausland,
so der Leiter des Zentrums für Islamische Theologie der Universität Münster.
Auch wenn der neutrale Staat Religionsgemeinschaften nicht finanziell fördern darf, sieht Khorchide Spielräume.
“Möglich wären staatliche Förderprojekte für liberale Muslime im Bereich Social Media. Der Staat könnte Muslimen auch dabei helfen, sich durch die Organisation einer ‘Moscheesteuer’ oder über eine Stiftung zu finanzieren, um eine Gemeindelandschaft neben den Verbänden zu etablieren und die Verbände unabhängig vom Ausland zu machen.” Ansätze dafür blieben stecken, auch weil die organisatorischen Voraussetzungen fehlen.
Lehrzentren wie in Münster gibt es an acht Universitätsstandorten. Sie sollen die dominierende Lehre der mittelalterlichen Rechtsschulen hinterfragen und Personal ausbilden, das im schulischen Religionsunterricht und als Imame in Moscheegemeinden einen aufgeklärten Islam vermitteln kann.
Khorchide beklagt, dass die Verbände weiterhin stark auf eigene Ausbildungsstrukturen setzen. Der Liberal-Islamische Bund sieht trotzdem Grund für Optimismus. Mittlerweile seien “gute Ansätze einer liberalen, vernunftoffenen islamischen Theologie erkennbar”.
Überhaupt arbeite die Zeit für ein liberaleres Islamverständnis. So beobachtet der LIB eine größere Akzeptanz von Homosexualität in der muslimischen Community. Auch Khorchide sieht insgesamt einen Trend zur Säkularisierung. Sorge bereitet ihm aber eine wachsende Radikalisierung von Splittergruppen in den Sozialen Medien. Auch hier müsse die nächste Bundesregierung genauer hinschauen.
© Christoph Schmidt (KNA)
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