Frankfurt/Paris (KNA) Gefängnis ist für viele Islamisten nach Überzeugung des französischen Extremismusforschers Hugo Micheron keine größtmögliche Strafe, sondern ein “Ort der Einkehr”. Dort könnten sie lesen, ihren “ideologischen Fundus festigen” und sich untereinander bestärken, sagte Micheron im Interview der “Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung”: “Sie sehen die Haft als Etappe, als eine Art notwendiger Passage, bevor sie den Dschihad woanders fortsetzen.”
Den westlichen Gesellschaften wirft der Politologe vor, sich damit zu beruhigen, dass Islamisten weggesperrt werden. Man hoffe, dass sie dann irgendwann geläutert würden; doch Haft sei “nicht die Endstation in einem dschihadistischen Lebenslauf”. Micheron weiter: “Die Frage, die wir uns stellen müssen, lautet: Wie bestraft man einen radikalen Islamisten? Wir stellen sie uns aber nicht.” Nach der Entlassung wiederum sei die Sache für den Strafvollzug erledigt. “Wir müssen mit diesem Scheuklappendenken aufhören.”
Der extreme Islamismus sei ein gesamtgesellschaftliches Problem, so Micheron. Es reiche nicht, erschrocken über Terroranschläge zu sein. Die Gesellschaft müsse sich bewusst werden, “was sich in den Haftanstalten zusammenbraut. Solange wir wegschauen, verlieren wir wichtige Zeit im Anti-Terror-Kampf.”
Die islamistische Radikalisierung in bestimmten Stadtvierteln lasse sich nicht mit sozioökonomischen Faktoren erklären, betonte der Wissenschaftler und verwies auf den Brüsseler Stadtteil Molenbeek, wo die Lage heute deutlich besser sei als noch vor 15 Jahren. Dort hätten sich viele Bewohner damals noch als Belgier mit ländlich-marokkanischer Herkunft verstanden, sagte Micheron. Heute verstünden sie sich vor allem als Muslime in einem Sinne, der grundlegenden Werten Belgiens entgegenstehe.
Als Verursacher verwies Micheron auf islamistische Wohlfahrtsorganisationen und Schulen sowie islamistische Führer, die ihre Abschottung vom Rest der Gesellschaft vorangetrieben hätten. “Dschihadismus und Islamismus sind Aktivismus”, so der Politologe. Solche Anführer wählten sich ihr Betätigungsfeld selbst aus, so wie es Politiker im Wahlkampf täten. “Sie identifizieren Orte oder Gruppen, von denen sie annehmen, dass ihre Botschaften verfangen.” Das Problem sei, “dass wir immer erst dann aufwachen, wenn sie schon Erfolg hatten und der Schaden schon angerichtet ist”.
Die sogenannten Sozialen Medien wirkten für diese Entwicklungen als Beschleuniger, analysierte der Politologe – sowohl bei der Verbreitung islamistischer Propaganda und Hassbotschaften als auch bei der Kontaktvermittlung, der Mobilisierung und der Kommunikation. Ein gutes Beispiel sei die jüngste Ermordung eines Lehrers bei Paris. Ein Vater eines Schülers hatte über die Sozialen Netzwerke seinen Zorn über die Diskussion der Schüler über Mohammed-Karikaturen gepostet. Am Ende habe sich ein junger Tschetschene aus der Normandie berufen gefühlt, den Pariser Lehrer hinzurichten.
Micheron lehrt derzeit an der Princeton University in den USA.
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