Heikler Streit um das “V”-Wort
Die türkische Regierung behauptet, es habe ihn nie gegeben. Doch jetzt hat auch US-Präsident Joe Biden die Massaker an den Armeniern im Ersten Weltkrieg als Völkermord eingestuft. Ein Blick auf einen heiklen Streit.
Von Christoph Arens (KNA)
Berlin (KNA) Es ist ein jahrelanger heikler Streit um ein Wort. Waren die Massaker an bis zu 1,5 Millionen Armeniern, Pontos-Griechen, Assyrern und Aramäern im Osmanischen Reich Völkermord? Am Samstag hat auch US-Präsident Joe Biden ausdrücklich das heikle V-Wort in den Mund genommen und damit heftige Proteste beim Nato-Partner Türkei ausgelöst. Auch in Deutschland gab es jahrelangen Streit um die historische Einordnung.
Zwischen 1915 und 1918 waren im damaligen Osmanischen Reich bis zu 1,5 Millionen Angehörige christlicher Minderheiten ermordet worden. Während Historiker vom “ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts” sprechen, räumt die Türkei als Rechtsnachfolgerin des Osmanischen Reichs lediglich Massenvertreibungen und gewalttätige Auseinandersetzungen mit mehreren Hunderttausend Toten ein.
Begonnen hatten die Ereignisse am 24. April 1915 mit der Verhaftung von 235 armenischen Intellektuellen in Istanbul. Im von Krisen geschüttelten Osmanischen Reich bildeten die Armenier um 1900 eine autonome Gemeinde mit eingeschränkten Rechten. Erfolge in Landwirtschaft, Handwerk und Finanzwesen weckten Neid. Für viele Türken waren die unter westlichem Schutz stehenden Christen Schuld am Siechtum des Reiches.
Schon Ende des 19. Jahrhunderts kam es zu Pogromen. Allein die Massaker von 1894 bis 1896 hinterließen zwischen 50.000 und 300.000 Tote. Als zwischen 1909 und 1912 auch die Balkanvölker auf Unabhängigkeit von den Türken drängten oder von den Großmächten annektiert wurden, spitzte sich die Situation zu: Die 1908 an die Macht gekommenen Jungtürken zielten auf ein einheitliches Reich, wollten Türkisch und den Islam als alleinige Basis durchsetzen.
Der Erste Weltkrieg lieferte die Gelegenheit, dieses Konzept umzusetzen. Auf Befehl des Innenministeriums wurde die Elite der Armenier zu Tausenden verhaftet und meist ohne Prozess hingerichtet. Zehntausende starben auf Todesmärschen.
Deutschland, damals Kriegsverbündeter der Türkei, schaute stillschweigend zu, war aber informiert. Der deutsche Vizekonsul in Erzurum hielt 1915 fest: “Die armenische Frage soll nun im gegenwärtigen Krieg gelöst werden”, und zwar “in einer Form, die einer absoluten Ausrottung der Armenier” gleichkomme.
Der Widerstand einer kleinen Gruppe ging in die Literaturgeschichte ein: In seinem Erfolgsroman “Die vierzig Tage des Musa Dagh” schilderte Franz Werfel, wie sich im Herbst 1915 mehrere tausend Armenier am 1.700 Meter hohen Mosesberg verschanzten. Kurz bevor sie aufgeben mussten, wurden sie von einem französischen und einem britischen Kriegsschiff gerettet.
Die Gewalttaten hatten ein Nachspiel, das Rechtsgeschichte schrieb: Nach dem Krieg drängten die westlichen Siegerstaaten erstmals auf Kriegsverbrecherprozesse. Ein türkisch besetztes Kriegsgericht in Istanbul stellte fest, dass die Verbrechen zentral vorbereitet wurden, und verurteilte 17 Angeklagte zum Tode. Die Haupttäter flohen, wurden aber zum Teil von armenischen Attentätern ermordet.
Die historische Einordnung hat seitdem immer wieder zu massivem Streit geführt. Bereits 2019 hat der US-Kongress die Massaker als Völkermord anerkannt. Die Regierung des damaligen US-Präsidenten Donald Trump betonte anschließend, die rechtlich nicht bindende Resolution ändere nichts an der Haltung der US-Regierung. Biden-Vorgänger Trump hatte “von einer der schlimmsten Massen-Gräueltaten des 20. Jahrhunderts” gesprochen, das Wort Völkermord aber – wie andere US-Präsidenten auch – vermieden.
Der Bundestag hat die Massaker an den Armeniern 2016 als Völkermord eingestuft – das belastete die deutsch-türkischen Beziehungen schwer. 2005 hatte das Parlament in einer Erklärung lediglich von “Deportationen und Massakern” gesprochen. Der Begriff “Völkermord” wurde allerdings in der Begründung des Antragstextes verwendet.
Eine klare Position hat auch Papst Franziskus bezogen. In einem Gottesdienst zum 100. Jahrestag des Beginns der Armenier-Verfolgung im April 2015 bezeichnete er die Ereignisse als “ersten Genozid des 20. Jahrhunderts”. Und mahnte die Türkei, die Erinnerung an den Völkermord zu pflegen: “Wo es keine Erinnerung gibt, hält das Böse die Wunde weiter offen”, so Franziskus.
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